© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Gespielte Wirklichkeiten
Neue Trends zu immer mehr Simulationen bei der Kölner Gamescom-Messe
Joachim Paul

Ein zweimannhoher grüngelber Traktor der Premiummarke John Deere weist den Jüngern den Weg zu Kunstrasen sowie zu grobschlächtigen Holzbänken und -tischen, auf denen man stilecht Landwirtschaftssimulator Premium spielen kann. Manche Anhänger drängen in Holzfällerhemden zum Stand im Zentrum einer der größeren Hallen der Kölner Spielemesse Gamescom, um sich und ihr großes Spiel zu feiern. Große Herausforderungen stehen an, denn die Erträge kleiner Güter und großer Liegenschaften wollen erfolgreich ausgebaut, gesteigert und verwaltet werden, und das mit Hilfe eines realistischen Landmaschinenfuhrparks und mit Rücksicht auf Vieh, Futter, Umwelt und Energieversorgung. Aber die Konkurrenz schäft nicht. Auch die virtuellen Landwirte kämpfen inzwischen auf großen E-Sport-Turnieren um hohe Preisgelder.

Deutschland, und das wurde von Mittwoch bis Sonntag einmal mehr deutlich, ist Gamerland. Markt Nummer eins in der EU, weltweit auf Rang fünf nach China, den USA, Japan und Großbritannien. 

Versicherungssachbearbeiter, die während der Arbeit zocken?

Schon jetzt setzt die Branche mehr um als das Film- und Musikgeschäft zusammen, fast 200 Milliarden Euro jedes Jahr weltweit. Das Genre der Simulationen aber ist nirgendwo so beliebt wie bei uns. Deutsche versuchen sich ganz besonders gern als Hoch- und Tiefbauer, Landwirt, Flugkapitän, Schaffner, Polizist oder Feuerwehrmann. Das treibt den hiesigen Softwarehersteller Aerosoft an, der in diesem Segment gute Geschäfte macht.

So muß dessen in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Feuerwehrverband entstandene Simulation vor den Augen Tausender spielender und fachsimpelnder Feuerwehrmänner bestehen. Noch gehe das gut, versichert man uns augenzwinkernd am Stand. Aber vor allem die Flugsimulatoren des seit 1991 aktiven Unternehmens haben Kultstatus. Das hat sogar den US-Rüstungskonzern Lockheed Martin auf den Plan gerufen. Der Hersteller des Kampffliegers F-35 kooperiert mit den Paderbornern.

Längst geht es nicht mehr allein um Spielspaß und Zerstreuung. Schon jetzt werden „Serious Games“ und „Gamification“ (Trend von Anwendungen, stärker Spielen zu ähneln) immer wichtiger. Denn eine immer leistungsfähigere KI (künstliche Intelligenz), die hinter jeder graphischen Kulisse pausenlos rechnet, kann etwa Industrieprozesse optimieren helfen, neue Potentiale entdecken, erwünschte oder unerwünschte Folgen abschätzen und den Unternehmen Strategie und operatives Geschäft erleichtern. Schon jetzt steigern Versicherungen die Effizienz ihrer Sachbearbeiter durch anregende Spielelemente mit Belohnungssystem im Arbeitsprozeß.

Polen hat Chance zur Digitalisierung genutzt

Gleichwohl kann die Gamescom nicht darüber hinwegtäuschen, daß deutsche Spieleschmieden nur geringe Marktanteile ergattern können. Infolgedessen sind auch die personellen Ressourcen knapp, Fachkräfte werden händeringend gesucht. Allein in den kanadischen Städten Montreal und Toronto arbeiten mehr Spieleentwickler als in der gesamten Bundesrepublik. Da ist Polen weiter, und zwar deutlich. Das Land präsentiert sich in Köln kontaktfreudig und selbstbewußt. Bei einem kühlen Tyskie-Bier kann man sich über Erfolge und Perspektiven informieren: Eine zielscharfe staatliche Förderung hat den Produzenten hinter der Oder auf die Beine geholfen. Programmierer, Designer und Marketingexperten blieben im Land, die Branche entwickelte sich prächtig. Heute sind Unternehmen wie das Warschauer CD Projekt börsennotierte Giganten. Nebeneffekt: Die digitale Infrastruktur, eine Achillesferse Deutschlands, wuchs im Nachbarland mit der Branche mit. Glasfasernetz und 5G sind in Polens Ballungsgebieten schon lange keine Seltenheit mehr. Galionsfigur des Erfolgsstandortes ist The Witcher (Der Hexer). Der zaubernde und kämpfende Protagonist der Fantasyromane des polnischen Autors Andrzej Sapkowski hat sich als Spielfigur eines Games zum Kassenschlager entwickelt. Netflix verfilmt den Stoff sogar. 

Mit fast 70 Millionen verkauften Exemplaren hat das Spiel einen enormen Beitrag zur polnischen Volkswirtschaft geleistet, die fiktionale Literatur des Landes wurde mit belebt. Mittlerweile werden Spiele verfilmt und nicht mehr umgekehrt, was daran liegt, daß die Geschichten und Spielwelten immer ausgefeilter und anspruchsvoller werden. Eindrucksvoll zu besichtigen am Stand von Ubisoft, dem Mainzer Publisher. Dort warten Hunderte Gamer unter Kunstpalmen in einer schummrigen Kulisse eines Piratennestes, um weggeschnittene Filmsequenzen von „Skull and Bones“ zu sehen. Mit dem karibischen Actionabenteuer will Ubisoft den Erfolg der legendären historischen Städtebauspielreihe Anno noch weit übertreffen.