© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

„Pardon wurde offiziell nicht mehr gewährt“
Zwischen Vertreibung und Vernichtung: Eine quellenkritische Lektüre des gegen die Hereros erlassenen „Genozidbefehls“
Oliver Busch

Der Ton der Nachricht war rauh: „Ich,  der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. (…) Das Volk der Herero muß (...) das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit und ohne Gewehr erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Vom Gros nicht nur der deutschen Historiker ist diese am 3. Oktober 1904 abgefaßte Proklamation des Generalleutnants Lothar von Trotha, die häufig auch als Vernichtungs-, Schieß- oder gar Genozidbefehl bezeichnet wird, das Schüsseldokument, um den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika als den „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ zu deuten und ihn als ersten Schritt auf dem Weg nach Auschwitz auszugeben.

Befehl nicht an die eigene Truppe, sondern an den Feind adressiert

Für Matthias Häussler (Bochum) ist Trothas bombastischer Text hingegen schon deshalb kein Schießbefehl oder eine Aufforderung, Aufständische auszurotten, weil er nicht an die Truppe, sondern an den militärischen Feind adressiert ist (Historische Zeitschrift, 314/2022). Auch könne eine differenziertere als die übliche Lesart nur einen zunächst fast marginal wirkenden Hinweis auf eine ihm nachgesagte „exterminatorische Kriegführung“ finden. Im Einvernehmen mit dem Großen Generalstab in Berlin und getreu der Kriegsphilosophie Carl von Clausewitz’ habe Trotha bis zu diesem Zeitpunkt eine Vernichtungsstrategie verfolgt, in der „Vernichtung“ lediglich die relativ konventionelle, enge militärische Bedeutung einer „Wehrlosmachung des Gegners“ hatte. 

Eine in diesem Sinne „vernichtende“ Niederlage wollte Trotha im August 1904 den seit Januar  gegen die deutsche Kolonialherrschaft rebellierenden OvaHerero am Fuße des Waterbergs beibringen. Doch die entzogen sich der Einschließung durch Flucht in die Omaheke-Wüste (etwa die Größe Bayerns), wo sie den deutschen Truppen in Stärke von etwa 1.500 Mann immer einen Schritt voraus waren. So glückte nicht einmal ein symbolischer Teilerfolg, da der Herero-Anführer Samuel Maharero ins britische Südafrika entkam. Das „Dogma der Vernichtungsschlacht“, dem Trotha wie jeder preußisch-deutsche General in jenen Tagen huldigte, sei also gescheitert.

Seine Proklamation entstand in diesem Kontext, während des Wechsels von der mißlungenen Vernichtungs- zur Ermattungsstrategie, nachdem Trothas Einheiten einige Wasserstellen entlang des Westrandes der Omaheke besetzt hatten, um die Rückkehr der OvaHerero zu verhindern. Man tue daher gut daran, ihren Inhalt wörtlich zu nehmen: Sie expatriiert die OvaHerero und erklärt sie für vogelfrei, um sie dauerhaft aus der Kolonie zu vertreiben. „Vertreibung“ lasse sich aber nicht ohne weiteres als Camouflage für „Ausrottung“ abtun. Zumal Trotha ihre Vertreibung schon Wochen vorher als Option für den Fall ins Auge gefasst hatte, den Gegner nicht einholen und einkesseln zu können. 

Angesicht von Trothas faktischer Unfähigkeit, die OvaHerero zu schlagen, fürchtete  der preußische  Generalstabschef Alfred von Schlieffen, daß er sich mit den „entsetzlichen Drohungen“ seiner Proklamation nur „lächerlich“ machen könne, da seine Nachschublinien und auch die Truppenstärke nicht hinreichten, um an eine „aktive Vertreibung“ auch nur zu denken. Selbst das Minimalziel, eine Kolonie ohne OvaHerero, sei daher unerreichbar gewesen. 

Einen Willen zum Genozid lasse Trothas Proklamation darum nicht erkennen – wenn da nicht die Passage gewesen wäre, die jeden Herero mit Erschießung bedroht. Für Häussler kündigt sie die Möglichkeit auch zur bedingungslosen Unterwerfung auf: „Pardon wurde offiziell nicht mehr gewährt. Damit nahm die Kriegführung einen offen exterminatorischen Zug an.“ Zwingend ist diese Interpretation nicht. Denn nur mit der massiven Drohung, auch Rückkehrwillige zu töten, konnte Trotha hoffen, ausnahmslos alle OvaHerero zu vertreiben. Insoweit ist die Proklamation, wie Häussler im Widerspruch zu seiner Deutung inkonsequent letztlich einräumt, „ursprünglich etwas anderes als ein Dokument des Genozids“.


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