© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Über 200.000 politische Häftlinge sind ein klares Indiz
Wolfgang Welsch hat eine leidenschaftliche Anklage gegen die SED-Diktatur geschrieben / Das Gedenken an einen Unrechtsstaat wachhalten
Konrad Löw

Der Haupttitel des jüngsten Buches von Wolfgang Welsch gibt wenig preis. Doch der Untertitel ist aufschlußreich. „SED-Diktatur“ gab es nur eine, und die „nur“ 40 Jahre. „Abrechnung“ läßt darauf schließen, daß Autobiographisches eine bestimmende Rolle spielt. Und so ist es auch. Nach einem Fluchtversuch aus der DDR 1964 wurde Welsch zu zehn Jahren Haft verurteilt und verbüßte diese im Stasi-Gefängnis Berlin-Pankow, im Gefängnis Bautzen und im Zuchthaus Brandenburg. Nach seinem Freikauf druch den Westen 1971 half er über 200 DDR-Bürgern bei der Flucht aus dem Unrechtsstaat.

Die Einführung beginnt mit der Verlautbarung eines Bolschewiki, der bekennt, daß die Kommunisten ihre Ziele nur „über Kampf und Vernichtung“ erreichen können. Das war keine neue Offenbarung, sondern die Wiederholung dessen, was Marx und Engels schon 1848 verkündet hatten: „Die Kommunisten (...) erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ Welsch beklagt, daß die Schilderungen dieser  Wirklichkeit gewordenen Absicht im freien Westen „eher als ein Produkt des Kalten Krieges denn als Informations- und Anklageschriften gegen ein totalitäres Regime verstanden“ wurden. Ihm ist es ein Anliegen, den Deutschen den Deutschen die kommunistische Diktatur ebenso präsent zu machen wie die NS-Diktatur. Schon in der Einführung beantwortet er die naheliegende Frage, ob das Opfer, also er selbst, berufen ist, den fraglichen Sachverhalt zu klären. Er verweist auf nahezu sieben Jahre Haft, Mißhandlungen, fünf  Tötungsversuche. Wer ohne Betroffenheit schreibt, der muß sich sagen lassen, er produziere „Yoghurt-Literatur, die das Verfallsdatum schon auf dem Buchumschlag trägt.“

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Das erste macht den Leser mit dem Machtapparat der Partei und ihrem Haupt-Repressionsinstrument vertraut, dem Ministerium für Staatssicherheit, auch Stasi genannt. „Bis zum Untergang der DDR überzogen die MfS-Dienststellen flächendeckend das Land.“ Über 90.000 Personen arbeiteten 1989 hauptamtlich für das MfS, weitere 170.000 als inoffizielle Mitarbeiter (IM). Wer war ein Verfolgter? Ein Opfer von operativen Maßnahmen. Insgesamt gab es in den vierzig Jahren DDR über 800.000 Häftlinge, davon mindestens 200.000 politische. „Daneben gab es die Masse, die so tat, als sähe sie nichts.“ Wie treffend, aber üblich in totalitären Staaten.

Das zweite Hauptkapitel befaßt sich mit den Mitteln und Methoden der Stasi. „Wie und warum funktionierte der Terror?“ Auf vielfältige Weise. Eine Möglichkeit bot die vielgepriesene Meinungsfreiheit, zu der man sich in der Verfassung feierlich bekannte. Sie war in Wirklichkeit eine Täuschung, die die meisten Opfer zu Fall brachte und half, die Staatskasse mit Lösegeld zu füllen. In Artikel 27 der DDR-Verfassung von 1968 stand, daß jeder Bürger das Recht habe, „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Einer dieser Grundsätze war die Anerkennung der führenden Rolle der SED, wie dies die Einleitung zur Verfassung unmißverständlich festschrieb. Glaubhaft berichtet Welsch, daß schon ein Brief an die Vereinten Nationen als „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ zu einer „verbrecherischen Organisation“ mit jahrelangem Freiheitsentzug geahndet wurde. Andere Kapitel befassen sich mit „Marxismus als Ersatzreligion und ideologische Basis“, „Flucht und Fluchthilfe als Widerstandshandlung“, „der Bedeutung des Widerstandes für das Ende der DDR“.

Knapp 400 engbedruckte Seiten belegen, mit welcher Kompetenz und Leidenschaft sich Welsch an seine Leiden in einem schlecht kaschierten Unrechtsstaat erinnert. Dem entspricht die Schilderung des Widerstandes. Da können Wiederholungen nicht ausbleiben. Das beachtliche Werk verdient weiteste Verbreitung. Leider fehlt jedoch ein Register.






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth.

Wolfgang Welsch: Widerstand. Eine Abrechnung mit der SED-Diktatur. Lukas Verlag, Berlin 2021, gebunden, 379 Seiten, 30 Euro