© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Der Flaneur
Ohne Maske in der Tram
Matthias Bäkermann

Dann nehme ich eben die nächste. Auf meinem Heimweg zu müde für einen Spurt, lasse ich die Tram sausen und ergebe mich statt dessen der mitternächtlichen Hungerattacke. Mit dem Döner in der Hand studiere ich das Berliner Partyvolk um mich herum, Studenten, junge Touristen, Tagediebe. Nur wenige Frauen, einige grell aufgemacht, kichernd, offensichtlich angeschickert. Als die letzte Bahn endlich kommt, steigt mit mir aber nur eine von ihnen zu. „Wo kommen Sie her?“ hätte ich in privaterer Atmosphäre meine neugierige Frage an die exotische Schwarzhaarige gerichtet. Eine Bemerkung, die meine strenge Cousine, Jurastudentin in Leipzig, sofort zu der augenrollenden Belehrung veranlassen würde, ich bestätigte damit nur „‘weiße Phantasien’ bezüglich ‘Rasse’ und Territorialität“.

Kümmere dich um deinen Mist und setz dir eine Maske auf!

Auch einen Fahrgast, der sich über die ganze Sitzreihe vis-á-vis der Schönen lümmelt, interessieren ihre territorialen Wurzeln augenscheinlich eher weniger. Vielmehr bekundet der junge Schwarzafrikaner – seine wirre Mimik läßt darauf schließen, daß er „auf Droge“ ist – sein sexuelles Interesse an ihr. Mit obszönen Kommentaren in Pidgin-Englisch auf sie einredend gestikuliert er direkt vor ihrem Gesicht, welche Penetrationspraktiken er präferieren würde. Im hinteren Abteil der Tram drehen sich ein paar Mitfahrer demonstrativ weg, die junge Frau schaut weiter stoisch geradeaus. Ihre FFP2-Maske, die sie um diese Uhrzeit als einzige trägt, verbirgt ihr entsetztes Antlitz.

Auch ich schreite lieber nicht ein, wende meinen Blick dennoch nicht ab. Das reizt den aggressiv Freienden aber wohl über Gebühr, denn plötzlich springt er in meine Richtung los. „Motherfucker“, brüllt er mich an. Zornig tritt er gegen die Tür der gerade anhaltenden Tram, während ich ängstlich auf die weiten Taschen seiner Jogginghose starre, ob dort eventuell ein Messer verborgen ist. Gott sei Dank steigt der Wüterich aus. Als ich mich erkundige, ob „der Typ Sie bedroht hat“, ernte ich jedoch einen unerwarteten Spruch: „Kümmere dich um deinen Mist und setz dir eine Maske auf!“ herrscht mich die Bedrängte an.