© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Deutschland zuletzt
Regierung in der Krise: Der Außenministerin sind ihre deutschen Wähler egal – eine Äußerung mit Symbolkraft
Gerhard Papke

Manchmal zeigen scheinbar nebensächliche Ereignisse, was in einem Land wirklich schiefläuft. Tagelang wurde nicht nur in den sozialen Medien erbittert über einige Sätze debattiert, die Außenministerin Annalena Baerbock bei einer Veranstaltung in Prag auf englisch von sich gegeben hatte. Das Auswärtige Amt und zahlreiche linksliberale Journalisten behaupteten schnell, es handele sich um einen gezielten Desinformationsversuch Rußlands, der Baerbock diskreditieren solle.

Doch die eindeutig authentische Botschaft der Außenministerin ist weiterhin öffentlich nachprüfbar: Die bisherige Unterstützung für die Ukraine, einschließlich der Sanktionen, solle weitergehen. „Wenn ich Menschen in der Ukraine das Versprechen gebe: ‘Wir stehen mit euch zusammen, so lange wie ihr uns braucht’, dann will ich das auch einhalten“, erklärte Baerbock. Und zwar unabhängig von den Auswirkungen auf Deutschland – dafür gebe es schließlich Entlastungspakete – und unabhängig davon, „was meine deutschen Wähler denken“.

Diese Botschaft Baerbocks konnte eigentlich niemanden überraschen, der ihre Politik und die Haltung ihrer Partei kontinuierlich analysiert. Ihr eigenes Land ist für die Grünen keine Kategorie, sondern lediglich Plattform ihrer Macht. Sie füh-len sich berufen, die ganze Welt zu retten, und zuallererst das Weltklima. Deutschland erscheint ihnen demgegenüber geradezu unbedeutend. Patriotismus, die Liebe zum eigenen Land, ist ihnen völlig fremd. Einschlägige Zitate grüner Politiker, etwa von Robert Habeck, finden sich im Internet an jeder Ecke.

Nur so ist zu verstehen, warum Baerbock in der Zuwanderungspolitik die Parole „Wir haben Platz“ ausgibt und die Grünen gemeinsam mit  SPD und FDP die ungesteuerte Massenzuwanderung nicht stoppen, sondern sogar noch weiter anheizen. Der Rest der Welt schüttelt nur fassungslos den Kopf. Die tapferen Ungarn, die gerade wieder einmal auf eigene Kosten die Grenzbefestigung Europas ausbauen, werden dafür von den Grünen und ihren Fans in deutschen Medien sogar noch als inhuman beschimpft.

Selbstverständlich ist das grüne Desinteresse für deutsche Interessen auch prägend in der Energiepolitik. Der Ausstieg aus der Atomkraft ist ihnen heilig, selbst wenn die Energiepreise in Deutschland explodieren und Familien und Betriebe in die Knie zwingen. Kretschmann empfiehlt Waschlappen. Habeck gibt Tips fürs sparsame Duschen und verordnet lieber das Ende nächtlicher Leuchtreklamen, selbst wenn es dann in deutschen Innenstädten so aussehen mag wie in manchem Entwicklungsland.

Tagelang hat die Ampel-Koalition in Meseberg über Auswege aus der Energiekrise beraten – das Thema Atomkraftwerke blieb ein Tabu. Die deutschen Bürger merken das und werden hellhörig. Längst haben sich die einstmals stabilen Mehrheiten für den Ausstieg aus der Kernenergie ins Gegenteil verkehrt. Wer in Sorge gerät, ob er seine Wohnung noch heizen kann, wird beim besten Willen nicht einsehen, weshalb die sichersten Kernkraftwerke der Welt abgeschaltet werden sollen. Denn die helfen eben nicht nur, die Stromkosten zu senken. Habeck aber bleibt sturr. Lediglich als Notreserve läßt er nun zwei Akws bis April in Betriebsbereitschaft halten.

Wohl nirgends fällt die Kollision der Grünen mit den Interessen Deutschlands jedoch so heftig aus wie bei ihrer Rußlandpolitik. Der Westen darf den brutalen Überfall Putins auf die Ukraine nicht hinnehmen. Deutschland muß selbstverständlich darauf hinarbeiten, sich Schritt für Schritt aus der extremen Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien. 

Aber erstens bleibt es immer eine historische und geopolitische Verpflichtung unseres Landes, mit Beharrlichkeit auf eine Verständigung mit Rußland hinzuwirken, so steinig und schier aussichtslos das momentan auch erscheinen mag. Hätten deutsche Staatsmänner wie Brandt, Kohl und Genscher trotz des Kalten Krieges nicht an dieser Maxime festgehalten, würden wir wohl immer noch auf die Wiedervereinigung warten. Und zweitens ist Unabhängigkeit von russischem Gas auf Sicht der nächsten Jahre nicht mehr als eine Illusion oder wäre jedenfalls nur mit einem gewaltigen Wohlstandsverlust zu erkaufen, wie ihn Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat.

Die Börsenpreise für Gas sind zu Beginn der Woche schlagartig um weitere 35 Prozent in die Höhe geschnellt. Das mit großem Tamtam von der Bundesregierung präsentierte „Entlastungspaket“ wird völlig verpuffen, weil es weder die Ursachen noch die Auswirkungen dieser Kostenexplosion bekämpft und sowohl die mittelständische Wirtschaft als auch die Familien mit mittleren Einkommen weitgehend alleine läßt. Spürbar profitieren werden lediglich die, für deren Lebensunterhalt die Allgemeinheit bereits jetzt vollumfänglich aufkommt. Die deutsche Politik versagt vor der Realität, und die Bürger spüren das. Nur noch 29 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, der Staat sei handlungsfähig und könne seine Aufgaben erfüllen – ein historischer Tiefstand. Doch Baerbock nimmt sich jeden diplomatischen Spielraum und schadet dem, was sie so gerne ignoriert: den deutschen Interessen. Übrigens ist es eine Schande, daß ausgerechnet Deutschland keinen hochrangigen Vertreter nach Moskau entsandt hat, um Michail Gorbatschow die letzte Ehre zu erweisen, dem wir so unendlich viel zu verdanken haben! Der einzige EU-Regierungschef, der vor Ort Blumen am offenen Sarg niederlegte, war Viktor Orbán.

Der Aufschrei über Baerbocks Äußerung in Prag ist jedenfalls berechtigt: Kann es denn wirklich sein, daß Deutschland die Entscheidung über den weiteren Fortgang dieses schrecklichen Krieges alleine in die Hand der Ukraine und ihres Präsidenten legt? Kann es sein, daß die deutsche Außenministerin der Ukraine eine unbefristete Zusage für Waffenlieferungen und zum Beibehalt von Sanktionen gegen Rußland gibt, ohne Rücksicht auf deren Konsequenzen für die eigene Bevölkerung? Sanktionen zumal, die erkennbar nicht dazu beitragen, den Krieg zu beenden, sondern dem Aggressor Rekordeinnahmen bescheren, die vor allem von deutschen Familien und Betrieben bezahlt werden müssen.

Die Zahl der Deutschen, die diese Fragen mit „Nein“ beantworten, nimmt jeden Tag weiter zu. Da werden keine „Entlastungspakete“ helfen, die auf Pump lediglich Symptome lindern, und schon gar keine Durchhaltefloskeln („Wir lassen niemanden zurück“). Das Selbstverständnis der Ampel-Parteien und vor allem der Grünen steht vor einem harten Realitätstest. Den wird am Ende keine politische Partei bestehen können, die sich nicht den Interessen des eigenen Landes verpflichtet fühlt. In jeder anderen Demokratie der Welt ist das übrigens selbstverständlich.