© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Bibbern vor dem Wut-Winter
Proteste: In ostdeutschen Städten gehen die Leute gegen steigende Preise auf die Straße
Peter Möller / Florian Werner

Das Publikum ist ein bunter Mix aus Rentnerehepaaren, Bier trinkenden Studenten und jungen Familien mit Kindern. Bis zu 10.000 Demonstranten hatten die Veranstalter am Montag auf dem Augustusplatz in der Leipziger Altstadt erwartet – gekommen sind zur Kundgebung der Linkspartei unter dem Motto „Heißer Herbst gegen soziale Kälte“ laut Polizeiangaben rund 9.000 Teilnehmer. 

Bei der Mobilisierung für diese neue „Montagsdemo“ in Leipzig hatte die Linke durchaus Konkurrenz. Denn auch die AfD, die rechten „Freien Sachsen“ und die Initiative „Patriotische Stimme für Deutschland“ hatten zu Demonstrationen aufgerufen. Im Vorfeld war die Angst vor Ausschreitungen deshalb groß. Bis auf wenige Ausnahmen blieb die Stimmung jedoch weitgehend friedlich. 

„Stattdessen beschimpft uns Gysi als ‘Gesocks’“

Beherrscht wurde die Szenerie auf der Linken-Demo vor allem von den zahlreichen roten Fahnen, die überall verteilt wurden. Eine etwas ältere Teilnehmerin hielt die kommunistische Junge Welt in der Hand. „Ich finde es toll, daß wir Linken endlich auch mal wieder solche Veranstaltungen machen“, freute sie sich. „Zeitweise hatte man ja fast den Eindruck, man sei in der falschen Partei.“ Was sie damit meinte, erklärt sie aber nicht. 

Im Laufe der Kundgebung steigert sich die Prominenz der Redner immer weiter. Neben dem Ostbeauftragte der Linken Sören Pellmann, Bundestagsfraktionschefin Amira Mohammed Ali und Parteichef Martin Schirdewan spricht auch Linken-Ikone Gregor Gysi. In ihren Wortbeiträgen fordern die Politiker unter anderem die Abschaffung der Gas-umlage und der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel sowie die sofortige Einführung einer Übergewinnsteuer. 

Die Menge wird dabei zusehends lebhafter. „Ich hab die Schnauze langsam voll davon, daß wir normalen Menschen den Gürtel seit Jahren immer enger schnallen müssen, während die großen Konzerne einer nach dem anderen von der Bundesregierung gerettet wird“, ereifert sich etwa die nur als „Chiara“ vorgestellte Rednerin von der Interventionistischen Linken. Während sich die Linkspartei in den vergangenen Jahren immer wieder den Anstrich einer staatstragenden Partei gegeben hatte, schäumt sie an diesem Abend vor revolutionärem Trotz. Eine Fußgängerin auf dem Weg nach Hause wirkt dennoch ratlos. „Ich bin wirklich enttäuscht vom heutigen Abend“, seufzt die Dame. Sie stand auf der anderen Seite des Augustusplatzes – bei den „Rechten“. Warum die Linken denn nicht verstünden, „daß wir nur gemeinsam etwas erreichen können?“, meint sie nachdenklich. „Stattdessen hat uns Gysi aber lieber als ‘Gesocks’ beschimpft.“

Es ist eine Konstellation wie diese am Montag in Leipzig, die in Berlin für Nervosität sorgten. Mit wachsender Sorge schaut nicht nur die Ampelkoalition auf die kommenden Wochen und Monate. Angesichts der hohen Inflation und insbesondere mit Blick auf die dramatisch steigenden Energiepreise befürchten viele politisch Verantwortliche, daß es im Herbst und Winter auf den deutschen Straßen ungemütlich werden könnte – auch wenn die unbedachte Äußerung von Außenministerin Baerbock (Grüne) von einem drohenden „Volksaufstand“ nicht von allen geteilt wird.

„Ich warne scharf davor, jetzt von drohenden Volksaufständen zu reden“, sagte etwa der Magdeburger Protestforscher David Begrich der Zeit. Das spiele nur jenen in die Hände, die von dieser Angst lebten. Dazu sei Protest nicht zwingend zersetzend, er könne auch Ausdrucksform mündiger Bürger sein: „Ich glaube, der Demokratie steht ein bißchen Konfliktfähigkeit gut zu Gesicht.“ Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), zeigt sich dagegen besorgt: „Ich habe Respekt vor dem Winter“, sagte er dem Blatt. „Wenn Energie noch teurer wird, wenn die Leute die steigenden Preise sehen, wenn die Wohnung kälter wird – wenn all das auf einmal passieren sollte, dann bekäme manche Sorge oder Wut ja einen realen Boden.“

In Berlin wird derzeit vor allem die Lage im Osten genau beobachtet. Dort, so lehrt die Erfahrung der vergangenen Jahre, gibt es eine andere Protestkultur als im Westen, gehen die Bürger eher auf die Straße, wenn ihnen etwas nicht paßt. Vor allem in Regionen, die unmittelbar von Öl- und Gaslieferungen aus Rußland abhängig sind, wie dem brandenburgischen Schwedt oder der Chemieregion um Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, wächst seit dem Angriff Rußlands auf die Ukraine und dem Beginn der Sanktionspolitik die Unruhe und wächst die Gefahr eines „Wut-Winters“.

Und die ersten Demonstrationen der vergangenen Tage deuten auf ein großes Mobilisierungspotential im Osten hin – auch jenseits von Leipzig. So folgten Ende vergangener Woche in der Chemiestadt Bitterfeld-Wolfen 2.000 Menschen einem Demonstrationsaufruf der AfD, an diesem Montag konnte die Partei 2.000 Menschen in Magdeburg mobilisieren. 

Das Beispiel Schwedt in Brandenburg zeigt, wie angespannt die Lage an manchen Orten ist. Die dortige PCK-Ölraffinerie wird seit Jahrzehnten durch die Pipeline „Druschba“ (Freundschaft) mit Öl aus Rußland versorgt. Doch am Ende des Jahres greift das von der Bundesregierung verhängte Ölembargo. Damit droht auch der Raffinerie in Schwedt, die jährlich zwölf Millionen Tonnen russischen Rohöls verarbeitet, das Aus. 1.200 Mitarbeitern und Tausenden Beschäftigten bei Zulieferern droht die Arbeitslosigkeit. Dadurch steht nach Berechnungen der Stadt an der Oder die Existenz von bis zu 10.000 Menschen auf dem Spiel – für die strukturschwache Region an der polnischen Grenze wäre dies eine Katastrophe. 

„Ob es eine Lösung gibt, scheint keinen zu interessieren“

Bereits im Mai schlug Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das Unverständnis der Belegschaft für das geplante Ölembargo entgegen. Mittlerweile wird versucht, den bevorstehenden Ausfall des russischen Öls durch Lieferungen über Rostock und Danzig zumindest teilweise zu kompensieren, doch es gilt als unrealistisch, daß das Druschba-Öl komplett ersetzt werden kann. Die Bürgermeisterin der 30.000 Einwohner zählenden Stadt, Annekathrin Hoppe (SPD), warnt evor der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung. „Und trotzdem scheint es in der Bundespolitik keinen zu interessieren, ob es eine Lösung für Schwedt gibt“, sagte Hoppe der FAZ. Sie glaube nicht, daß die Menschen dort ruhig bleiben, wenn sich die Situation zuspitzt. 

Die Landrätin des Landkreises Uckermark, Karina Dörk (CDU), fordert unterdessen eine längere Belieferung der PCK-Raffinerie in Schwedt mit russischem Öl als bislang geplant. Ein Ausstieg aus russischen Öllieferungen ohne Alternative sei nicht akzeptabel, sagte sie vergangene Woche dem RBB. Sie warnte vor den Folgen des drohenden Arbeitsplatzverlustes und verwies darauf, daß es beim Kohleausstieg Jahrzehnte Zeit zur Vorbereitung für die betroffenen Regionen gegeben habe. Den Ölausstieg in einem halben Jahr zu schaffen, sei nicht möglich. Und die Verantwortlichen wissen, sollte der Raffinerie in Schwedt das Öl ausgehen, werden die Proteste nicht auf die Stadt begrenzt bleiben, sondern als Initialzündung für einen „Wut-Winter“ im ganzen Osten wirken.