© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Mit Rad und Tat
„Urgestein“: Der einstige RAF-Anwalt, ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete und legendäre Linksaußen Christian Ströbele ist tot
Christian Vollradt

Nahezu sämtliche Nachrufe auf den vergangene Woche verstorbenen Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele heben seine Rolle als das „linke Gewissen“ seiner Partei hervor. Einer, der seinen Überzeugungen treu blieb, sei er gewesen, heben voller Respekt sogar einstige Gegner des langjährigen Bundestagsabgeordneten hervor. „Urgestein“, „Ikone“ – mit Ehrentiteln wird nicht gegeizt. 

Tatsächlich war Ströbele der erste und lange Zeit der einzige, der 2002 ein Direktmandat für die Grünen holte, den Wahlkreis Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg. Daß seine Kampagne von Erfolg gekrönt war, galt auch als Sieg über das „Realo“-Establishment seiner eigenen Partei. „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“, so das Motto. Joschka Fischer, nach 1998 Außenminister und Vizekanzler in der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, gab den vom Straßenkämpfer zum Chefdiplomaten gewandelten Oberrealo im schicken Dreiteiler; Ströbele, studierter Jurist, pflegte auch in späteren Jahren den Schlabber-Look eines sozialistischen Szene-Anwalts. Er bildete die Opposition in der grünen Regierungsfraktion, etwa bei seinem Votum gegen die Militäreinsätze im Kosovo und in Afghanistan. 

Im 1967 von Anti-Vietnamkriegs-Protesten der Studenten aufgewühlten West-Berlin trat Ströbele als Rechtsreferendar in die Kanzlei von Horst Mahler ein. Als der in die linksextreme Rote-Armee-Fraktion abglitt, verteidigte ihn Ströbele vor Gericht – wie später andere Terroristen, die er als „Genossen“ anredete. 1982 verurteilte das Berliner Landgericht den Mitbegründer der linksalternativen Tageszeitung taz wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. 

Dank Rotation zog das Mitglied der Berliner Grün-Alternativen Liste 1985 erstmals in den Bundestag. Aus dem flogen die West-Grünen 1990 wieder hinaus. Kein Wunder, teilten nicht wenige dort Ströbeles Meinung, die Wiedervereinigung, sei die „größte Landnahme der deutschen Industrie seit den Kolonialkriegen“. Kurz auch seine Karriere als Parteichef. Ströbele, nicht unbedingt ein Pazifist, aber stets erklärter Gegner westlicher Waffengänge, hatte während des ersten Golfkriegs 1991 in einem Gespräch mit dem Publizisten Henryk M. Broder für die Süddeutsche Zeitung die irakischen Raketenangriffe auf Israel als „logische, fast zwingende Konsequenz der israelischen Politik den Palästinensern und den arabischen Staaten gegenüber“ bezeichnet. Auf seine Behauptung, er habe das so nicht gemeint, empfahl Broder, Ströbele solle „einen Experten für Schizophrenie konsultieren“. 

2017 trat er krankheitsbedingt nicht mehr als Abgeordneter an. Daß Ströbele nicht in seinem alternativen Kiez, sondern im bürgerlichen Charlottenburg wohnte und daß er sein zum Markenzeichen erkorenes altes Damenfahrrad gelegentlich im Auto zum mediengerechten Einsatzort brachte, tat seinem politischen Kultstatus keinen Abbruch.