© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Krawatte der Woche
Auf’n Schlips getreten
Christian Vollradt

Ein Blick auf die Straße, in Büros, Hör- oder Konzert-, ja sogar Plenarsäle läßt keinen Zweifel: Sie ist vom Aussterben bedroht, die Krawatte. Selbst da, wo es angeblich bürgerlich zugeht, sieht man mehr Tattoo-Tinte auf der Haut als Binder um den Hals. Mancher weint dem Accessoire gediegener Männlichkeit keine Träne nach: Hitzestau, Atemnot und Würgereiz, oder Senf-, Bier- (sowie gelegentlich auch Rückwärts-Bier-) Flecken auf diesem – im besten Fall – Stück Seide. Mittlerweile soll in elitären Kreisen der Wirtschaft das Krawattetragen geradezu als Ausweis niederer beruflicher Stellung gelten und entsprechend verpönt sein. Vielleicht erscheint es in Zeiten der Sensibilität, neudeutsch der „Awareness“, gegenüber „kultureller Aneignung“ auch durchaus geboten, den Schlips lediglich denen zu überlassen, die einen gewissen Anteil magyarischen Bluts ihr eigen nennen können. Doch auch politisch konnte das Kleidungsstück eine erhebliche Wirkung entfalten. Ein grüner Langbinder mit goldenen Hunden wurde zur ikonischen Bildmarke für die AfD, seit ihr damaliger Vorsitzender Alexander Gauland diesen britischen Klassiker nahezu dauerhaft zum Tweed trug und damit die Gazetten zierte. Sein Nachfolger sorgte dieser Tage nun für Aufsehen – und den in sozialen Netzwerken geradezu unvermeidlichen Hohn. Als Tino Chrupalla in einem „O-Ton“ fürs Fernsehen das Entlastungspaket der Ampel kommentierte, offerierte die Kamera einen Blick hinter den geöffneten obersten Hemdknopf des Fraktionschefs (die Taliban der Stilkunde würden schon deswegen den Sprengstoffgürtel zünden). Und siehe da, Chrupalla trug eine Krawatte, die nicht gebunden, sondern per Gummizug befestigt war. Zu spotten verbietet sich an dieser Stelle unter Verweis aufs sprichwörtliche Glashaus. Denn solch ein Potemkinscher Schlips zierte einst auch einen Hals in der JUNGE FREIHEIT-Redaktion …