© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Der Westen fehlte
Rußland: Ungarns Viktor Orbán gab Michail Gorbatschow als einziger Regierungschef aus der EU das letzte Geleit
Curd-Torsten Weick

Vor dem Haus der Gewerkschaften in Moskau bildeten sich lange Schlangen von Menschen. Tausende warteten darauf, sich von Michail Gorbatschow, dem letzten Staatschef der Sowjetunion, zu verabschieden. Sein Sarg wurde von einer Ehrengarde bewacht, während Familienmitglieder und Freunde von dem verstorbenen Staatsoberhaupt Abschied nahmen. Einer von ihnen, als einziger Staats- oder Regierungschef eines Landes, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. 

Ungarns Freiheit und die ungarische Demokratie verdanken dem Wirken von Gorbatschow sehr viel, erklärte Orbán in einem Video, das er auf seiner Social-Media-Seite hochgeladen hatte, nachdem er bei der Beerdigung des verstorbenen Staatschefs Blumen niedergelegt hatte. „Es hat viel gekostet, uns von der Sowjetunion zu befreien und uns vom Kommunismus zu befreien, ohne Blut und Opfer. Ohne Gorbatschow wäre das nicht möglich gewesen – und schon gar nicht in Frieden und ohne Blut. Wir sind ihm dankbar, und deshalb sind wir hierhergekommen und haben Blumen zu seinem Gedenken niedergelegt“, betonte der Premier.

Angaben der Nowaja Gaseta zufolge gaben zudem der Nobelpreisträger und Chefredakteur der Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, die ehemalige Beraterin von Präsident Ronald Reagan, Suzanne Massey, und der US-Botschafter in Rußland, John Sullivan, der Generaldirektor der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja Dmitri Kisseljow, die Sängerin Alla Pugatschewa und andere Gorbatschow die letzte Ehre. Deutschland und Österreich und andere EU-Mitgliedstaaten wurden von den Geschäftsträgern ihrer Botschaften in Moskau bei der Trauerfeier in der historischen Säulenhalle vertreten. Die Halle wird seit langem für die Beerdigung hoher Beamter in Rußland genutzt und war der Ort, an dem der Leichnam Josef Stalins während der viertägigen Staatstrauer im Jahr 1953 aufgebahrt war.

„Ich erinnere mich an den ersten Moment, als ich ihn sah“, erklärte Massey. Gorbatschow sei so anders gewesen als das, was sie „aus der Sowjet-union gewohnt“ war. Sie habe es kaum glauben können. „Ich war in Leningrad, und da stand dieser junge Mann in einem Ring von begeisterten Menschen.“ 

Präsident Wladimir Putin ehrte Gorbatschow zwei Tage vorher  

Rußlands Präsident Wladimir Putin nahm an der offiziellen Zeremonie nicht teil. Er hatte zwei Tage vorher „aufgrund eines Arbeitstermins“ Blumen am Sarg Gorbatschows im Zentralen Klinischen Krankenhaus niedergelegt. „Das Staatsoberhaupt kam in schwarzer Krawatte und mit einem Strauß scharlachroter Rosen“, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. „Als er sich dem Sarg näherte, legte er Blumen nieder, blieb eine Weile stehen und verneigte sich vor dem großen Porträt Gorbatschows, das zu dessen Füßen stand. Danach berührte Putin den Sarg mit seiner Hand und bekreuzigte sich.“ In der Vergangenheit sei Putin als russischer Präsident mehrmals mit Gorbatschow zusammengetroffen, so Peskow. Zuletzt habe er den ehemaligen sowjetischen Staatschef im März 2006 in Nowo-Ogarjowo, einen Tag nach dessen 75. Geburtstag, besucht. 

Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion wurde neben seiner vor 23 Jahren verstorbenen Frau Raisa beigesetzt, die als sowjetische „First Lady“ im Westen ebenso beliebt war wie ihr Mann Michail Gorbatschow.