© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Krachende Niederlage für linke Träume
Chile: Die Volksabstimmung über eine neue Verfassung geriet zum Desaster der Regierung
Jörg Sobolewski

Die Volksabstimmung über die Annahme eines neuen Verfassungsentwurfs in Chile ist mit einer deutlichen Ablehnung durch über sechzig Prozent der Bevölkerung zu Ende gegangen. Die Ablehnung gilt auch als klare Niederlage für den linksextremen Präsidenten Gabriel Boric, dessen Partei offen für die Annahme plädiert hatte. 

Bereits wenige Stunden nach dem Beginn der Auszählung zeichnete sich ein klarer Sieg für die Gegner des Verfassungsentwurfes ab. In allen Landesteilen lagen die Gegner des Entwurfs, den manche als „wokeste Verfassung aller Zeiten“ betiteln, weit vorn. Auch in der Hauptstadt Santiago und der Unruheprovinz Araucania zeichnete sich früh eine klare Mehrheit gegen die neue Verfassung ab.

 Noch während der Auszählung fanden in der Nacht auf Montag in weiten Teilen des Landes spontane Freudenfeste der Gegner statt. Auch in Santiago de Chile, wo es vereinzelt zu Zusammenstößen mit linksextremen Gruppen kam.

Nach einer von Gewalt überschatteten Protestwelle 2019 erfolgte im Oktober 2020 eine Volksabstimmung in der eine Mehrheit der Chilenen für eine Neufassung der Verfassung von 1980 votierte. Diese wurde als zu wirtschaftsliberal und unsozial empfunden. Eine neue Verfassung sollte die empfundene gesellschaftliche Ungleichheit überwinden. 

Selbst Chiles Indigene stellen sich quer  

Der im März vom zuständigen Gremium vorgelegte Entwurf stieß jedoch auf lautstarke Kritik. Die Gegner des Entwurfs werfen der sogenannten „verfassunggebenden Nationalversammlung“ vor, die Anliegen linker Gruppen und deren Partikularinteressen stärker gewichtet zu haben als die Anliegen der Mehrheit der Chilenen. Tatsächlich sah der Entwurf neben einem „Recht auf Abtreibung“ und weitreichendem Umweltschutz auch eine Autonomie und eigene Gerichtsbarkeit für indigene Gruppen vor. Viele Chilenen sehen darin einen Anschlag auf die Einheit des Landes. Auch unter den Indigenen, etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung, fand sich keine Mehrheit für den Vorschlag. 

Während vor allem Anhänger radikaler Mapuche für den Entwurf warben, lehnte der Stamm der Huilliche auf der Insel Castro im Süden des Landes die neue Verfassung entschieden ab. Die traditionellen Stammesführer warfen linken Kräften vor, sich ungefragt zum Anwalt der Indigenen gemacht zu haben, dies sei „respektlos“. Tatsächlich setzte das Bündnis Gente del Sur (Menschen aus dem Süden), das gemeinsam mit anderen Gruppierungen aus dem ganzen Land Teil der „Rechazo“ („Ich lehne ab“)-Bewegung war, von Anfang an auf eine möglichst breite Opposition gegen den Entwurf. 

Neben Anhängern der alten Verfassung sprachen sich auch Zentristen, kirchliche Gruppen und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen gegen die Annahme der Verfassung aus. Mario Marchant, Jurist und Sohn eines Agrarwirts aus der Region Los Lagos faßte die Strategie so zusammen: „Wir haben bewußt keine Parteien mit der Organisation beauftragt. Es handelte sich um eine Bürgerkampagne im Gegensatz zur Zustimmungsbewegung, die massiv von der Regierung und der kommunistischen Partei gepusht wurde.“ 

Präsident Boric hatte stark für die Annahme des Entwurfs geworben, Kritiker warnten hingegen, Chile würde so zu einem zweiten Venezuela. Eine Befürchtung, die auch der junge Anwalt Marchant teilt: „Der Entwurf hätte die Gleichheit vor dem Gesetz und damit auch einen der Grundpfeiler unserer Demokratie beendet. Egal, ob wir deutschen oder indigenen Ursprungs sind, vor allem sind wir Chilenen.“ Diese Furcht vor einer fragmentierten Gesellschaft hatte im Vorfeld der Abstimmung besonders stark unter sonst eher unpolitischen Gruppen in Chile Stimmen mobilisiert.