© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Umverteilen zum Wohlfühlen
Energiekrise: Das dritte Entlastungspaket hilft den Bürgern kaum und der Wirtschaft gar nicht
Marc Schmidt

Die Inflationsrate bei zehn Prozent, zweistellige Preissteigerungen im Supermarkt, die Kraftstoffpreise über zwei Euro, eine Vervielfachung der Strom- und Gaspreise, kalte Wohnungen und temporäre Stromabschaltungen im Winter – es droht tatsächlich ein „heißer Herbst“. Denn anders als bei Hartz IV, der Finanz-, Euro- und Asylkrise oder Corona werden die Kriegs- und Sanktionsfolgen auch in der breiten Mittelschicht spürbar sein. Deswegen versprachen die verängstigten Ampelkoalitionäre ein „wuchtiges Paket“ mit ordentlich „Wumms“: Die 20 Punkte des dritten Entlastungspakets summieren sich auf 65 Milliarden Euro.

Das entspricht dem gesamten Jahresetat des Gesundheitsministeriums oder 13 Prozent des auf 495,8 Milliarden Euro aufgeblähten Bundeshaushalts 2022 – oder der Hälfte der ausgewiesenen Neuverschuldung von 140,6 Milliarden Euro beziehungsweise dem Doppelten der geplanten Energiesteuereinnahmen von 33 Milliarden Euro. Bei 83 Millionen Einwohnern wären das 780 Euro pro Kopf oder 1.560 Euro für jeden der 41,5 Millionen Haushalte. Doch da es angeblich „sozial gerecht“ zugehen soll, wird nicht ein Pauschalbetrag überwiesen – Donald Trumps erster „Corona-Scheck“ für jeden US-Steuerzahler betrug 1.200 Dollar –, sondern in Deutschland ist es immer komplizierter.

Vorhaben, die auch ohne Krise auf der Tagesordnung standen

Die Korrektur der „Kalten Progression“, Kindergeld- und Freibeträge sowie die Abzugsfähigkeit der Rentenbeiträge summieren sich für eine Familie mit zwei Kindern und 35.000 Euro Bruttoeinkommen auf 642 Euro. Bei einer eher Grünen- oder FDP-affinen Vergleichsfamilie mit 150.000 Euro Brutto­einkommen landen unter dem Strich 1.880 Euro zusätzlich auf dem Konto. Bei einem Singlehaushalt mit 25.000 Euro sind es nur 178 Euro, bei einem bindungslosen Besserverdiener mit 100.000 Euro hingegen 876 Euro. Das hat nicht die AfD oder die Linke ausgerechnet, sondern das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Und es ist eine „Mogelpackung“: Mindestens 25 Milliarden Euro des Entlastungspakets „beziehen sich auf Vorhaben, die auch ohne Energiepreiskrise auf der Tagesordnung gestanden hätten“, so IW-Steuerexperte Tobias Hentze. Immerhin seien die Einmalzahlungen an Rentner (300 Euro) und Studenten (200 Euro) „richtig und konsequent, gleichzeitig aber auch das Eingeständnis, die Gruppen bisher vergessen zu haben“.

Wohngeldbezieher erhalten einmalig den „Heizkostenzuschuß II“ von 415 Euro für Alleinstehende beziehungsweise 540 Euro für Paare – doch an die unter Angela Merkel eingeführte „CO2-Bepreisung“, die Benzin, Diesel, Gas und Heizöl jährlich verteuert, wagt sich ihr Nachfolger nicht heran: Die im Januar anstehende Erhöhung wird lediglich auf 2024 verschoben. Und was ist mit der Wirtschaft, auf der der deutsche Wohlstand beruht? Erst ab Punkt elf finden sich „Unternehmenshilfen“ und dann der „Spitzenausgleich energieintensive Unternehmen“. Von letzteren gäbe es nur 9.000 – und die werden mit „rund 1,7 Milliarden Euro entlastet“. Und dies ist zudem mit der Mahnung verbunden, Maßnahmen zu ergreifen, „um den Verbrauch der Energie zu reduzieren“. Das unterstellt, das Firmen im harten Wettbewerb es sich leisten könnten, Gas und Strom zu verschwenden. Das IW lobt zwar „den Ansatz, bei Liquiditätsengpässen zu helfen“, vermißt aber „Schritte wie den Verzicht auf Steuervorauszahlungen“.

Für Firmen wie Hakle kommt all das zu spät: Trotz stabiler Toilettenpapiernachfrage und stark gestiegener Verkaufspreise mußte das Düsseldorfer Familienunternehmen am Montag ein Insolvenz­verfahren in Eigenverwaltung beantragen – die „massiv gestiegenen Kosten für Material- und Energiebeschaffung sowie der Transporte“ waren nicht mehr zu tragen. Und weitere Firmen der Stahl-, Chemie-, Papier- und Glasindustrie oder zahlreiche Handwerksbetriebe werden wohl folgen. Ihnen hilft die Verlängerung der „Absenkung der Umsatzsteuer für Speisen in der Gastronomie auf sieben Prozent“ sicher nicht. Und für steuer- und abgabenfreie „einmalige Lohnzahlungen von bis zu 3.000 Euro“ haben Hakle, die Arcelor-Stahlwerke in Bremen und Hamburg oder die Stickstoffwerke Piesteritz sicher kein Geld übrig.

Auch vergünstigte Kredite helfen bei explodierenden Energiekosten kaum. Der saarländische Fliesenhersteller Villeroy & Boch (V&B) zog daher schon im Juli die logische Konsequenz: Die Fertigung wird in die Türkei verlagert – trotz einer dortigen Inflationsrate von 80 Prozent. Die V&B-Eigentümerfamilie, die Istanbuler Eczacıbaşı Holding, vertraut dennoch dem türkischen Staat mehr. Auch Ford verläßt das Saarland und verlagert die Produktion nach Spanien. „Made in Germany“ wird bei solchen Energiepreisen für immer mehr Branchen illusorisch.

Trotz EU-weiter Stromknappheit sollen AKWs nicht weiterlaufen

Daß es künftig nicht besser werden wird, zeigt exemplarisch der Verzicht auf eine Laufzeitverlängerung der letzten drei verbliebenen deutschen AKW: Die Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 würden lediglich noch „bis Mitte April 2023“ in „eine Reserve überführt“, erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montagabend bei der Präsentation der Ergebnisse des zweiten Streßtests für das deutsche Stromnetz. Neue Brennelemente würden daher nicht eingesetzt.

Das AKW Emsland, das mit seinen 1,4 Gigawatt (GW) auch den von Habeck umgarnten Erdgaslieferanten Niederlande mit bezahlbarem Strom versorgen könnte, geht Ende Dezember sogar ganz vom Netz – schließlich wird am 9. Oktober in Niedersachsen ein neuer Landtag gewählt, und die Grünen wollen dabei schließlich auf keine Stimme verzichten. „Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie“, betonte der grüne Minister. Dennoch wird das neue AKW Akkuyu mit russischer Technik östlich der Touristenprovinz Antalya fertig gebaut – die Türkei will auf dessen stabile 4,8 GW Leistung nicht verzichten.

 www.bundesregierung.de

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