© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Mehr „Putin-Gas“ und das „Baltic Pipe Project“
Rußland-Sanktionen: Gegensätzliche Energiediplomatie in Ungarn und Polen / Beide setzen auf Kernkraft, aber mit jeweils anderen Partnern
Albrecht Rothacher

Ungarn und Polen brachten 1989 den Ostblock zum Einsturz. Ihre nationalkonservativen Regierungen leisten heute der Brüsseler Klima- und Genderpolitik heroischen Widerstand. Doch in ihrer Rußland- und Energieimportpolitik gehen beide entgegengesetzte Wege: Premier Viktor Orbán versucht, mit einem Schmusekurs beim Kreml den Ungarn eine sichere Öl- und Gasversorgung zu besseren Konditionen zu sichern. Die Warschauer PiS-Regierung koppelte sich hingegen von Rußlandimporten radikal ab.

Auf den ersten Blick hat Polen sehr gute Karten: Es gibt oberschlesische Steinkohle und niederschlesische Braunkohle in Hülle und Fülle; in der vorpommerschen Hafenstadt Swinemünde (Świnoujście) gibt es seit 2015 das Flüssigerdgas-Terminal „Präsident Lech Kaczyński“ – neben Memel (Klaipėda) im heutigen Litauen der einzige LNG-Importhafen in der Ostsee. Ungarn als Binnenland hat nichts dergleichen, nicht einmal Gebirge wie Österreich, die für Talsperren taugen.

Polen nutzte für seinen Primärenergiebedarf (Strom, Heizen, Industrie, Verkehr usw.) 2021 zu 42 Prozent Kohle, zu 31 Prozent Öl, zu 19 Prozent Erdgas und zu acht Prozent Wasserkraft und „erneuerbare“ Energien. Ungarn hängt hingegen zu 32 Prozent vom Erdgas und zu 30 Prozent vom Öl ab. Kohle liefert nur sieben Prozent der Primärenergie. Die zwischen 1982 und 1987 eingeweihten vier sowjetischen Reaktoren des AKW Paksch (Paks) südlich von Budapest an der Donau liefern aber 16 Prozent der Primärenergie bzw. 40 Prozent des Stroms. Der Rest sind in Ungarn „Erneuerbare“.

Norwegen verlangt vom Nato-Partner Polen hohe Marktpreise

Die Raffinerien und Petrochemiewerke des ungarischen Öl- und Gaskonzerns MOL in Ungarn und in der Slowakei werden ebenso wie die PCK-Raffinerie in Schwedt an der Oder, die Brandenburg und Berlin versorgt, von der russischen Druschba-Ölpipeline beliefert und sind auf die Verarbeitung von Uralöl spezialisiert. Während Orbán deshalb in Brüssel eine Ausnahme vom ab Januar gültigen Pipeline-Ölembargo durchgesetzt hat, hat die Bundesregierung auf die PCK-Raffinerie keine Rücksicht genommen. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó erhielt im August zudem russische Zusicherungen für Sonderlieferungen von Erdgas für September und Oktober. Zudem soll der Rosatom-Konzern  für 12,5 Milliarden Euro zwei weitere Kernreaktoren bauen (Paks II).

Als Warschau sich im April weigerte, Gazprom in Rubel zu bezahlen, wurde Polen das Gas der Jamal-Pipeline abgedreht. Doch die Regierung von Mateusz Morawiecki hielt sich eigentlich für gut vorbereitet: Am LNG-Terminal kann Gas aus Katar angelandet werden. Und im Oktober soll das „Baltic Pipe Project“ eröffnet werden, das Gas aus der norwegischen Nordsee quer durch Dänemark bis nach Greifenberg in Pommern (Gryfice) leitet. Von dort soll dann das von der staatlichen PGNiG betriebene polnische Gasnetz versorgt werden. Damit wäre der Bedarf weitgehend gedeckt – ganz ohne „Putin-Gas“. Doch hatte man beim Abschluß des Zwei-Milliarden-Projekts versäumt, mit den Norwegern feste Lieferverträge abzuschließen. Nun werden von dem Nato-Partner aktuelle Marktpreise verlangt, die sich seit Jahresfrist vervierfacht haben. Die will Premier Morawiecki nicht bezahlen, Polens Winterversorgung mit Gas ist damit gefährdet. Nicht auszuschließen ist daher, daß Warschau im Winter Berlin um Erdgaslieferungen ersuchen könnte, die dann, Ironie des Energie-Schicksals, aus der als „Kriegspipeline“ denunzierten Nord-Stream-1-Leitung stammen würden, sofern Wladimir Putin bis dahin noch oder wieder liefern sollte.

Und: Auch Polen setzt wieder auf Kernkraft. Der 1982 begonnene Bau des mit sowjetischen Reaktoren ausgerüsteten AKW Zarnowitz (Żarnowiec) bei Danzig wurde zwar 1990 eingestellt, doch soll dort ab 2026 mit westlicher Technik ein modernes Kernkraftwerk errichtet werden. Zudem wurde im August ein Vorvertrag für den Bau von zehn kleinen modularen Reaktoren (SMR) durch die US-Firma Last Energy abgeschlossen – in der Sonderwirtschaftszone Liegnitz (Legnica/LSSE), nur 75 Kilometer östlich von Görlitz.

Baltic Pipe Project: www.baltic-pipe.eu