© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Die gesäuberte Universität
Britische Hochschulen: Mit Cancel Culture und „Trigger-Warnungen“ werden störende Meinungen und Bücher ausgesondert
Julian Schneider

Achtung, dieses Buch gefährdet Ihre geistige oder psychische Gesundheit. Ganz so plump lesen sich die „Trigger- Warnungen“ zwar nicht, aber faktisch besagen sie genau dies. Und inzwischen sind sie fester Bestandteil der Literaturlisten an Hunderten Hochschulen und Bibliotheken in Amerika und Großbritannien. Das Ausmaß, in dem an britischen Universitäten Werke der Weltliteratur schleichend von den Lehrplänen entfernt werden, weil sie „verstörende“ Inhalte aufweisen, hat jüngst eine große Recherche der Londoner Zeitung The Times aufgedeckt. Betroffen sind berühmte Autoren wie Shakespeare, Geoffrey Chaucer, Jane Austen, Charlotte Brontë, Charles Dickens und Agatha Christie, berichtete die Zeitung. Wenn die Werke nicht ganz vom Lehrplan genommen werden, dann werden zumindest die berüchtigten Warnhinweise („Trigger Warnings“) vorangestellt.

Es geht um Darstellungen von Gewalt, Sklaverei, ungleiche Rassen- und Geschlechterverhältnisse oder um andere Dinge, die man verschwinden lassen will. Shakespeares „Sommernachtstraum“ enthalte „Klassismus“, heißt es an der Universität Aberdeen. Auch die Bibel („verstörende Gewalt“) oder „Oliver Twist“ („Kindesmißbrauch“) dürfen nur noch nach vorheriger Warnung in die Hand genommen werden. Die Universität von Sussex hat das Theaterstück „Fräulein Julie“ von Strindberg vom Lehrplan gestrichen, weil darin ein Selbstmord vorkommt, der die Studenten und Studentinnen emotional aufwühlen könne. Die Universität nahe Brighton war vorigen Herbst in die Schlagzeilen gekommen, als Transgender-Aktivisten eine Hetzjagd auf die Philosophieprofessorin Kathleen Stock veranstalteten. Nach einer langen aggressiven Verleumdungskampagne, an der sich auch deutsche Akademiker beteiligten, gab die genderkritische feministische Dozentin ihren Posten auf.

Die Times hat sämtliche 140 Universitäten und Hochschulen des Landes angeschrieben und nach dem Informationsfreiheitsgesetz Auskunft verlangt. Das Ergebnis ist, daß in mehr als tausend Kursen in den vergangenen Jahren Bücher mit Trigger-Warnungen versehen oder ganz ausgesondert wurden. Dahinter steht das Bestreben, „Safe Spaces“ (sichere Räume) zu schaffen. Diese Idee kam zuerst in Amerika auf: Universitäten sollen ihre Studenten vor allem bewahren, was ihr „emotionales Wohlbefinden“ stören kann. Der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat in seinem Bestseller „The Coddling of the American Mind“ die Wandlung der Universität zur Therapieeinrichtung für verhätschelte und verweichlichte Schneeflocken beschrieben.

Aber natürlich kann das Konzept der „sicheren Räume“ auch wunderbar politisch instrumentalisiert und mißbraucht werden. Störende Meinungen oder „diskriminierende“ Ansichten, die einem seichten linken Mainstream widersprechen, „verletzen“ das Wohlbefinden der Studierenden, werden zu „Gewalt“ erklärt und müssen deshalb unterbunden werden. Es leuchtet ein, daß das Paradigma „Safe Space“ das Ende der Wissenschaft bedeuten kann, die aus der Konfrontation auch mit Ideen besteht, die einem mißfallen können.

Ironischerweise treffen die „Trigger Warnings“ zuweilen auch eher linke kritische Werke. An der Universität von Essex wird etwa der preisgekrönte Roman „The Underground Railroad“ von Colson Whitehead nicht mehr angeboten wegen der darin enthaltenen verstörenden Darstellung der Gewalt von Sklavenbesitzern. Die Nottingham Trent University wiederum sagt ihren Studenten im Französischkurs, daß sie das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo nicht mehr lesen müssen, das durch den blutigen islamistischen Anschlag vor sieben Jahren weltberühmt wurde; Charlie Hebdo sei rassistisch, sexistisch, vorurteilsbeladen und islamophob, so das Urteil der Uni-Dozenten.

Die Recherche der Times hat in England einigen Staub aufgewirbelt. Liz Truss, die neue britische Premierministerin, ließ sich mit den Worten zitieren, Universitäten sollen ihre Studenten nicht verhätscheln und bevormunden. Das sei nicht förderlich für die weitere Debatte. „Eine gute Ausbildung sollte auf dem freien Austausch von Meinungen und Ideen aufbauen und nicht durch linkes Gruppendenken beschränkt werden.“

Wie weit die Transformation der Universitäten schon fortgeschritten ist, zeigen verschiedene Umfragen. Zum einen belegen sie die erdrückende Dominanz linker Dozenten und Professoren. Mehr als drei Viertel der Akademiker an den Hochschulen wählen Parteien links der Mitte, die vom Altsozialisten Corbyn geführte Labour-Partei kam auf eine absolute Mehrheit. Weniger als jeder fünfte Hochschullehrer unterstützt die regierenden Konservativen. An sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten ist die linke Schlagseite noch größer. Dort wählen neun von zehn Akademikern links, zeigen mehrere Studien und Umfragen, die der Londoner Politikwissenschaftler Eric Kaufmann zitiert.

Zum anderen kommt der Druck zur Verengung des Meinungsspektrums bis hin zur Zensur auch von unten, von den Studenten. Laut einer Umfrage im Auftrag des Higher Education Policy Institute (Hepi) wächst die Zustimmung zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit, zum Entfernen anstößiger Bücher oder Denkmäler. Mehr als sechzig Prozent der Befragten äußerten, es sei wichtiger, alle Studenten vor Diskriminierung zu schützen, als komplette Redefreiheit zuzulassen. Nur noch siebzehn Prozent unterstützen „unbegrenzte Redefreiheit auf dem Campus, auch wenn dies gelegentlich Ärgernis verursacht“. Diese Position verliert deutlich an Zustimmung.

Viele Universitäten haben damit aufgehört, Orte des offenen und kontroversen Diskurses zu sein, und betreiben statt dessen gezielt eine Verengung des Meinungsspektrums auf „akzeptable“ Positionen des linksliberalen oder linken Mainstreams. Der Druck auf konservative Akademiker und Professoren nimmt zu, die sich ohnehin in einer Minderheitenposition befinden. Studien des Politikwissenschaftlers Eric Kaufmann haben gezeigt, daß ein Großteil der konservativen oder rechten Dozenten Selbstzensur betreibt, um Ärger, Mobbing und Kampagnen zu vermeiden, die bis zur Entlassung führen können. Nicht nur dezidierte Konservative, auch genderkritische Feministinnen geraten ins Visier, sie werden sogar primäre Ziele des Drucks. Jüngst zitierte die Times aus internen Protokollen einer Gruppe des universitären Gewerkschaftsverbands University and College Union (UCU), die eine Schwarze Liste von „genderkritischen Aktivisten“ und „Transphoben“ an den Unis erstellen wollte.

Die Cancel Culture, welche die linke UCU als Phantom bestreitet, ist real und führt dazu, daß jedes Jahr Dutzende Vorträge und Redner abgesagt werden. Am Ende steht die Dystopie der gesäuberten Universität, die nicht mehr der erkenntnissuchenden Wissenschaft, Forschung und Lehre, sondern der reinen Ideologieproduktion dient. Die Tory-Regierung hat schon vor zwei Jahren ein Gesetz zur Stärkung der Meinungsfreiheit auf dem Campus angekündigt, doch kommt das Projekt nicht sichtbar voran. Immerhin hat es zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit geführt, daß etwas im argen liegt.