© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Lieber auf Böckenförde als auf Habermas vertrauen
Religionsaffines Amtsverständnis
(wm)

Von den bisher zwölf Bundespräsidenten waren oder sind alle, zumindest auf dem Papier, christlichen Glaubens. Der Vorgänger des gegenwärtigen Hausherrn im Schloß Bellevue, Joachim Gauck, war sogar Theologe und Pfarrer. Aber auch Roman Herzog, Johannes Rau, Richard von Weizsäcker und Gustav Heinemann haben ihren evangelischen Kirchen in bedeutenden Ehrenämtern gedient. Weniger ins öffentliche Bewußtsein ist hingegen gedrungen, daß der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein, wie ihn der Theologe und Romancier Konstantin Sacher nennt, „hochverbundener Protestant“ ist. Man dürfe, ungeachtet der Rücksicht auf die grundgesetzlich fixierte religiöse Neutralität des Staates, mit Blick auf die Reihe seiner höchsten Repräsentanten daher durchaus vom „staatstragenden Protestantismus in Deutschland“ sprechen. Gerade Steinmeier, wie Sacher anhand seiner Rede analysiert, die er nach seiner ersten Wahl zum Bundespräsidenten am 12. Februar 2017 vor der Bundesversammlung hielt, pflege, – all seinen auf den Multikulturalismus geschworenen Eiden zum Trotz – ein „religionsaffines Amtsverständnis“ und vertraue auf die dezente Wirkung der christlichen Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Offenbar orientiere er sich lieber an Ernst-Wolfgang Böckenfördes „Paradox“, dem zufolge der freiheitliche Rechtsstaat sich von ethnisch-kulturell bedingten Sinn-Ressourcen nähre, die er selbst nicht garantieren könne, als an Jürgen Habermas, der der politischen Klasse seit Jahrzehnten einflüstert, die postnationale Gesellschaft benötige keinen kulturellen Hintergrund, um ein „Einverständnis unter Fremden“ herzustellen (Weimarer Beiträge, 2/2022). 


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