© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Meditationsunterricht für mentale Schlafwandler
Höchste Zeit, Rationalität zu trainieren
(ob)

Unter den vielen empirischen Tatsachen, die in den Geisteswissenschaften noch nicht angekommen seien, hält der Philosoph und Kognitionsforscher Thomas Metzinger (Mainz) „mentales Schlafwandeln“ für die wichtigste. Sie belege, daß der Mensch in seinem Wachleben zu 50 Prozent keine Kontrolle über seine Gedanken hat. Dieses Phänomen des anscheinend ziellos umherschweifenden Geistes, seiner Beschäftigung mit ungebetenen Erinnerungen, sei eines der interessantesten aktuellen Forschungsgebiete in den Neurowissenschaften und in der experimentellen Psychologie. Das permanente Auftreten anscheinend spontaner, aufgabenunabhängiger Gedanken und der sich täglich hundertfach wiederholende Verlust der Aufmerksamkeitskontrolle zeige, daß stabile kognitive Kontrolle die Ausnahme sei, „während ihr Fehlen die Regel ist“ und den Glauben an ein „autonomes Selbst als weit verbreiteten Mythos“ entlarve. Die neurowissenschaftliche Einsicht in unsere eingeschränkte geistige Autonomie stelle vor allem die Fähigkeit zu politisch vernünftigem und ethischem Handeln und damit das klassische Ideal der Aufklärung vom Menschen als dem „rationalen Tier“ in Frage. Doch Rationalität und mentale Autonomie könne man genauso trainieren wie innere Bewußtheit. Viele Hochschulen böten daher schon „säkularen Meditationsunterricht“ und „systematische Programme für die Entwicklung kritischer Medienkompetenz“ an. In Anbetracht sich beschleunigender, krisenhafter globaler Transformationsprozesse sei es höchste Zeit, mit solchen Kursen dazu beizutragen, „den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzer“ zu festigen (Forschung & Lehre, 5/2022). 


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