© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Bleibt alles beim alten oder veraltet alles? Vermutlich gilt letzteres. Zumindest für den Titel „Kleines Wirtschafts-Wörterbuch“ aus der „Herderbücherei“ von 1977. Dies demonstriert die Debatte dieser Tage, die ich mir wie folgt zusammenreime: „Sozialistisches Ungeheuer / Schlag nach bei: Übergewinnsteuer.“ Als ich dort nachsehe, fehlt der Begriff zwischen den Definitionen für „Typung“ und „Überwälzung“, wobei letztere ja maßgeblich für den aktuellen Inflationsprozeß ist. So hängt doch alles irgendwie miteinander zusammen. Das gilt auch für die Nachricht im Deutschlandfunk, der zufolge Rußlands Diktator Putin vor einer Schulklasse im einstigen Königsberg ein neues Schulfach eingeführt hat, eine Heimatkundestunde unter dem Motto „Gespräche über Wichtiges“. Während um die Ecke diverse Geldwäschereien unter dem Namen „Spätkauf“ florieren, wird in Rußland also die Gehirnwäsche ab der ersten Schulklasse eingeführt, so daß Kritik nur noch durch die Blume geäußert werden kann, wie seinerzeit der – von DDR-Lehrern in vertrauensseligen Momenten weitergetragene, natürlich dialektische – Witz über die sowjetische Presse, dem zufolge in der Prawda nie eine Wahrheit stünde und in der Iswestija nie eine Neuigkeit.

In Königsberg verfaßte der Aufklärer Immanuel Kant auch seine Schrift „Zum ewigen Frieden“.

Wirklich wichtig wäre in Kaliningrad indes das wahre Erbe, ist es doch gerade die junge Generation, die dort seit den neunziger Jahren der deutschen Vergangenheit nachspürte und ihre zwangssowjetisierte Stadt liebevoll „Kenig City“ oder kurz „Kenig“ nannte, also alles andere als ein Bekenntnis zu russischer Tradition – so die Berichte auf der beeindruckenden Fotoausstellung des Künstlers Andreas Bromba im Jahr 2007 in Berlin. Emotional bewegend berichtete damals eine junge Frau aus „Kenig“, die in einem deutschen Haus gewohnt habe und auf eine deutsche Schule gegangen sei, daß sie sich, als sie Deutschland besuchte, zum ersten Mal „zu Hause“ gefühlt habe. Wenn das kein Argument für eine „militärische Spezialoperation“ ist, weiß ich auch nicht! Schließlich würde so die deutsche „Reichsstraße 1“ von Aachen bis Königsberg wiederhergestellt, der Geburts- und Wirkungsstätte Immanuel Kants. Von Deutschlands wichtigstem Philosophen der Neuzeit und Begründer der Aufklärung wurde hier auch die Schrift „Zum ewigen Frieden“ verfaßt, unter deren Prämissen auch die Genese des russischen Angriffskrieges in der Ukraine noch einmal vollkommen neu zu bewerten wäre.


Das alles tangiert den Scholzomat im Kanzleramt nicht. Wer eine Münze einwirft, für den ertönt ein Satz, der die Mär von der Mitsprache simulieren soll: „You never talk alone!“ Von Selbstgesprächen ist derweil dringend abzuraten, der Feind hört schließlich mit. Wie ernst es ist, zeigt das beschriftete Schild links vom Eingang des neuen asiatischen Restaurants an der Ecke des Helmholtzplatzes: „Please don’t enter with symptoms of: Covid-19, Racism, Sexism, Trans- & Homophobia“. Da fällt mir auf: Wer hier dennoch als Nicht-Asiate mit Stäbchen essen sollte, machte sich zumindest der „cultural appropiation“ schuldig.