© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Tief stürzen, hoch steigen
Kino I: Der Film „Das Leben ein Tanz“ von Cédric Klapisch changiert zwischen Tanz-Doku und Selbstfindungsmelodram
Dietmar Mehrens

Nur weil ich so tief gefallen bin, konnte ich so hoch steigen“, zitiert die Restaurantbetreiberin Josiane (Muriel Robin) eine Bergsteigerin, die den Himalaja erklomm. Adressat der Mutmach-Botschaft ist die junge Tänzerin Élise (Marion Barbeau), die nach einer schweren Fußverletzung ihrer Leidenschaft nicht mehr nachgehen kann. Die 26jährige hatte sich in einem Pariser Ballett-Ensemble bereits einen Platz an der Sonne erobert. Doch nach einem Sturz steht alles in Frage: Bis zu zwei Jahren Zwangspause drohen nach Einschätzung ihrer Ärztin. Ein Karriereknick droht.

Élise versucht sich als Schauspielerin und lernt die impulsive Sabrina (Souheila Yacoub) kennen, deren Freund Koch ist. Und da sowohl Sabrina als auch Élise gerade ohne Engagement sind, läßt die junge Frau sich überreden, in dem von Josiane betriebenen Restaurant in der Bretagne auszuhelfen. Vielleicht brauche sie einfach mal einen Tapetenwechsel, meint Sabrina. 

Eine Ode an die Körperbeherrschung

Wie es der Zufall (bzw. das Drehbuch) will, trainiert in Josianes kultur- und kunstaffinem Restaurant gerade die Hofesh Shechter Company. Hinter dem Namen verbergen sich Tänzer einer anderen Disziplin, nämlich der zeitgenössischen – man könnte auch sagen: avantgardistischen – Tanzkunst. Leiter und Namensgeber der Truppe ist der Israeli Hofesh Shechter, der sich im Film selbst spielt und auch die Musik beisteuerte. Damit ist klar, worum es in „Das Leben ein Tanz“ im wesentlichen geht: um ein schön verpacktes Porträt der Arbeit des von Regisseur Cédric Klapisch bewunderten Tänzers, seine Choreographie, seine Philosophie. Entsprechend großen Raum nehmen in dem Film Tanzszenen ein. Schon der Anfang, der Élises Sturz und seine Begleitumstände zeigt, besteht aus einer rund zehnminütigen dialogfreien Ballett-Szene, ist also eigentlich nur abgefilmtes Bühnenspektakel – zuwenig für einen Spielfilm. Auch später verirrt sich Klapisch in dem Bemühen, das Ambiente, das Fluidum der von Hofesh Shechter inszenierten Darbietungen möglichst authentisch einzufangen, immer wieder in eine dokumentarische Darstellungsweise. 

Zwar müht sich der Regisseur, bekannt geworden durch den Episodenfilm „So ist Paris“ (2008), redlich, seine eigentliche Hauptfigur Élise mit weiteren Konflikten zu beladen, und hat ihr deswegen noch so einiges ins Skript geschrieben. Neben ihrer physischen Verletzung gibt es auch Seelenwunden, die aufzuarbeiten sind: Da ist die Beziehung zu ihrem Vater, da ist das Trauma der früh verstorbenen Mutter, da ist der Schrei nach Liebe, der in die Beziehung zu dem Tänzer Mehdi mündet. Doch der Zuschauer hat schon nach der elend langen Eingangssequenz begriffen: Die Selbstfindungsthematik ist nur Beiwerk, ein austauschbarer Stoff, der der Hommage an die Ausdrucksform des Tanzes übergeworfen wurde, damit etwas irgendwie Kinotaugliches daraus werden konnte. Den Zustand des durch ihren Gegenstand Geblendetseins aber wird diese Ode an die Körperbeherrschung nie los. 

Es ist wiederum die altersweise Josiane, die im Namen des Regisseurs verkünden darf, was die von dem Choreographen Hofesh Shechter und der französischen Tänzerin Marion Barbeau exerzierte Kunst ihm bedeutet: „Wenn du tanzt, verschaffst du uns einen Zugang zur Schönheit“, sagt sie zu Élise. Es ist erkennbar, daß Klapisch, der durch Begegnungen mit Barbeau und Shechter zu dem Film inspiriert wurde, diesen Zugang auch dem Zuschauer eröffnen möchte. Nur ist der, falls er sich in erster Linie für Geschichten und für Choreographie eher sekundär interessiert, mit diesem filmischen Missionsfeldzug für die Ästhetik des Tanzes überfordert. Ein Fest hingegen erwartet alle diejenigen, bei denen die Prioritäten genau andersherum verteilt sind.


Kinostart ist am 8. September 2022