© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Aufzeichnungen eines Seismographen
Abenteuerliche Herzen: Der Publizist und Ernst-Jünger-Biograph Heimo Schwilk hat den ersten Band seiner Tagebücher vorgelegt
Till Kinzel

Der Publizist Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, ist ein ausgesprochen vielseitiger Mann. Er hat Biographien über Hermann Hesse, Rainer Maria Rilkes Frauen und Martin Luther vorgelegt, vor allem aber über Ernst Jünger. Und Jünger ist so auch einer der Hauptbezugspunkte des oft spannenden, immer erhellenden Tagebuchs, das Schwilk in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geführt hat. Es ist ein Buch voller Leben, mit allen Höhen und Tiefen, mit dem Blick für das wesentliche Detail.

Lang, lang ist es her, daß Schwilk zusammen mit seinem Freund und Berufskollegen Ulrich Schacht die politisch-kulturelle Szene des in geistigem Stillstand verharrenden Deutschlands nach der Wende mit Bravour aufmischte – und zwar als Herausgeber des sogleich heftig umstrittenen Sammelbandes „Die selbstbewußte Nation“ (1993). Dieser versammelte namhafte Autoren von Brigitte Seebacher-­Brandt über Hans-Jürgen ­Syberberg, Ernst Nolte, Rüdiger Safranski und Michael Wolffsohn bis zu Steffen Heitmann und Wolfgang Templin um das eigentliche Skandalon, das zu Beginn des Bandes abgedruckt war: der „Anschwellende Bocksgesang“ von Botho Strauß.

Das war einer jener wenigen Essays, die Geistesgeschichte geschrieben haben. Denn Strauß hatte mit seinen quer zum Zeitgeist liegenden Überlegungen und Analysen in ein Wespennest der politischen Korrektheit gestoßen. Die oft genug hysterischen Reaktionen auf den Essay boten einen Vorgeschmack auf die sich bis heute immer weiter steigernde Ausgrenzungs- und Denunziationsdynamik. Hatte Strauß noch von dem „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“ gesprochen, ist die Lage heute durch die sozialen Medien in ein anderes Stadium getreten.

Die Linke fürchtete um ihre kulturelle Hegemonie

Schwilk ist in der Nachfolge des Tagebuchschreibers Ernst Jünger häufig ein sensibler Seismograph, der die Veränderungen im Deutschland der 1980er und 1990er Jahre genau erspürt und in Worte faßt. Und wenn man nun sein Tagebuch und seine darin eingebetteten anschaulichen Reportagen liest, fällt auf, wie weit zurück die Weichenstellungen gehen, die zur heutigen Herrschaft der politischen Korrektheit beigetragen haben. Schon 1994 liest man: „Zu viele Leute mästen sich am Geschäft der Anbräunung.“

Schon „Die selbstbewußte Nation“ wurde von den Mainstream-Medien der Zeit damals heftig attackiert, weil hier offensichtlich mit den Denkverboten des Kalten Krieges gebrochen wurde und nüchterner Realismus an die Stelle der deutschen Selbstverzwergung gesetzt werden sollte. Deutschland war damals drauf und dran, die durch die – von kaum jemandem vorhergesehene – Wiedervereinigung gewonnene neue Freiheit zu verspielen.

Als 1995 von Schwilk, Schacht und dem Nationalliberalen Rainer Zitelmann der Versuch unternommen wurde, die geschichtspolitische Tendenz zu bekämpfen, im 8. Mai 1945 nur noch einseitig eine Befreiung zu erblicken, war der Aufschrei groß. Die Linke fürchtete um ihre kulturelle Hegemonie. Alles begann zunächst mit einer Zeitungsannonce, die mittels eines Zitates von Theodor Heuss die Ambivalenz des Datums unterstrich – 1945 war eben nicht nur das Ende der NS-Diktatur, sondern auch der „Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten“ und der Spaltung Deutschlands. Dabei sollte es jedoch nicht bleiben; eine Großveranstaltung in München zur weiteren Mobilisierung wurde geplant, ein neuer konservativer Aufbruch sollte angestoßen werden, unter Einbeziehung der CDU. Schwilks Planungen liefen auf Hochtouren. Das CDU-Urgestein ­Alfred Dregger, der als Vertreter der Partei-„Rechten“ galt, war als Redner vorgesehen; eine Podiumsdiskussion zwischen Ernst Nolte, Manfred Brunner, Ulrich Schacht und Zitelmann sollte das Ganze abrunden. Aber es hatte nicht sollen sein: die Cancel-Kultur feierte hier schon ihre Urstände. Helmut Kohl und Theo Waigel intervenierten entschieden. Zuerst knickte Dregger gegenüber Kohl ein, dann der für die Miete des Saals zuständige Peter ­Gauweiler – so wurde eben die Veranstaltung sabotiert, die der Kristallisationspunkt für einen politischen Neuaufbruch hätte sein können.

Schwilk und einige Weggefährten spielten damals mit der Idee einer neuen Partei mit dem Kürzel AfD – „Arbeit für Deutschland“ sollte das heißen. Aber seine Vorstellung, „die intellektuelle Mobilisierung und Vernetzung à la Gramsci voranzutreiben“, trug wenig Früchte. Die Wachhunde des Staates setzten sich in Bewegung, und im Frühjahr 1996 tauchte Schwilks Name erstmals im Verfassungsschutzbericht des Landes NRW auf; sein lakonischer Kommentar könnte auch aus unseren Tagen stammen: „Verfassungsfeinde, die das freie Wort kriminalisieren, spielen sich als Verfassungsschützer auf – der VS mutiert in den SPD- und rotgrün regierten Bundesländern zur Stasi.“

Unter dem Motto „Wiederkehr des Kommunismus oder Renaissance des Nationalstaats“ versuchten Schwilk und Co. weiterhin Einfluß auf die geschichtspolitische Debatte der Zeit zu nehmen. Daher folgte mit großer Energie sogleich die nächste Kampagne. Im Schatten der Reichstagsverhüllung durch Christo inszenierten Schwilk und seine Mitstreiter, in Anwesenheit übrigens von JF-Chef Dieter Stein und Frank Schirrmacher, die Verhüllung einer Attrappe eines sowjetischen Panzers, um an den 17. Juni 1953 zu erinnern, der im Geschichtsbewußtsein der Gegenwart fast schon nicht mehr präsent ist.

Schwilk macht sich in den frühen 1990er Jahren auch einen Ruf als Kriegsreporter, der waghalsige Märsche im Kriegsgebiet an der irakisch-saudiarabischen Wüste unternimmt. Schwilk, der bei der Bundeswehr als Fallschirmjägeroffizier gedient hat, ist kein Pazifist. Und er ist auch kein Anhänger eines Kohl-Konservatismus der behäbigen Selbstzufriedenheit. Vielmehr formuliert er klar deutsche Interessen – eine Sache, die bis heute im argen liegt, weil die tonangebenden Politiker lieber vorgebliche Menschheitsinteressen als die der Deutschen vertreten möchten.

Das Tagebuch lebt nicht nur davon, daß Schwilk seine Leser an den Freuden und Leiden des Familienlebens teilnehmen läßt, was seinen Ausführungen ein hohes Maß an Realitätssinn gibt. Besonders anschaulich wird es immer dort, wo Schwilk in ausführlichen Reportagen seine Begegnungen mit Schriftstellern schildert oder wo er Einblicke in die Mechanismen der Medienwelt und der Politik liefert. So trifft sich Schwilk nicht nur immer wieder – meist in Wilflingen – mit Ernst Jünger, dem er einen großen Bildband widmen sollte und der auch zum Gegenstand seiner späteren Dissertation an der TU Berlin wurde. Schwilk organisiert Festschriften für den Schriftsteller, der für ihn auch zur Leitfigur eines parteilosen Nonkonformismus in der liberalen Demokratie wird. Die Arbeiten an Schwilks monumentalem Jünger-Bildband nehmen viel Zeit und Energie in Anspruch; aber Schwilks Tagebuch verschweigt auch nicht die Enttäuschung, wenn Jünger bei einer Preisverleihung wenig inspirierte Dankesworte spricht, wo er prophetische Zeitdiagnosen erwartet hätte. Sonst aber habe Jünger die Politik „mit der ihm eigenen Lakonie“ gestreift. Das 21. Jahrhundert, ließ Jünger wissen, werde ein titanisches sein, die „heutigen Politiker seien dem, was sich da in der Tiefe vorbereite, in keiner Weise gewachsen. Alles würde ‘weggepustet’ werden.“ Höchst eigenartig auch das Gegengeschenk Jüngers an den Bildhauer Serge Mangin für seine Büste: eine Flasche Speick-Rasierwasser …

Auch seine Träume spart er nicht aus

Schwilk sucht ebenso das Gespräch mit dem Chronisten der preußischen Mark Brandenburg Günter de Bruyn, der „zu den eher leisen, deshalb aber nicht weniger nachdrücklichen Befürwortern“ eines Wiederaufbaus des Schlüterschen Hohenzollernschlosses gehörte – aus Gründen der historischen Gerechtigkeit und der Ästhetik. Außerdem trifft er mit dem eigensinnigen Walter Kempowski, dem Dichter und Maler Jürgen Hultenreich oder dem DDR-„Staatsfeind“ Reiner Kunze zusammen, mit denen er nach der Wende deren Heimatorte in der ehemaligen DDR besucht. Kontraste zu den vielen Besuchen bei Jünger ergeben sich auch durch Reisen zu Albert Hofmann, dem LSD-Erfinder, und zu dem Romancier Martin Walser. Der wollte sich zwar nicht an „Die selbstbewußte Nation“ beteiligen, sorgte dann aber bald für seinen eigenen Skandal, als er mit seiner Dankesrede für den Frankfurter Friedenspreis des Deutschen Buchhandels das Wort von der „Auschwitzkeule“ und der „Dauerpräsentation unserer Schande“ prägte.

Sehr hübsch ist auch die Schilderung eines Interviews mit Johannes Mario Simmel, der schon 1990 mit „Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche“ die ganze Bandbreite öko-apokalyptischer Themen bediente und geschickt zu vermarkten wußte. Unvergeßlich schließlich die Reise in das sibirische Eisland, die Schwilk mit dem Freundeskreis von Ulrich Schacht im Jahre 1995 unternahm.

Im Hin und Her von Politischem, Literarischem, Beruflichem und Familiärem – selbst seine Träume spart der Autor nicht aus – führt Schwilk seine Leser durch eine schon halb vergessene Zeit. Wer verstehen will, auf welchen Wegen sich das Deutschland des Jahres 2022 herausgebildet hat, sollte die Aufzeichnungen dieses abenteuerlichen Herzens lesen – sie bieten viel Stoff zum Nachdenken, gewiß auch viel Anlaß zur Melancholie, aber im Letzten auch das Glück, mit messerscharfen Sätzen einer Lage auf den Leib zu rücken, die wir immer noch zu verdauen haben. Auf die Fortsetzung des Tagebuchs in den Folgejahren des 21. Jahrhunderts darf man gespannt sein. Je näher seine „Gegengeschichte der Bundesrepublik“ an die Gegenwart heranrückt, desto besser: Nie waren Gegengeschichten so wichtig wie heute, da nur noch alternativlose Erzählungen in einer alternativlosen Zeit genehm sind.

Heimo Schwilk: Mein Abenteuerliches Herz I. Aus den Tagebüchern 1983–1999. Landt Manuscriptum, Neuruppin, 2022, gebunden, 632 Seiten, 42 Euro