© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Der neue Antikolonialismus
Jetzt in umgekehrter Richtung
Alain de Benoist

In Deutschland werden derzeit Denkmäler und Statuen von Kaiser Wilhelm I., zum Beispiel in Stuttgart oder Köln, massiv angegriffen. In Belgien sind es die Statuen von König Leopold II., die umgestoßen oder vandalisiert werden. Dasselbe gilt in Frankreich für die Statuen von Colbert, dem Minister Ludwigs XIV., dem vorgeworfen wird, 1685 die Abfassung des Code noir, eines Dekrets zur Regelung des Umgangs mit schwarzen Sklaven, gefördert zu haben. In allen Fällen geht es darum, alles auszulöschen, was die Erinnerung an die Kolonialzeit wachruft. Was ist der Grund für diesen späten antikolonialen Aufschwung, der mittlerweile alle westlichen Länder erfaßt hat?

Um das zu verstehen, muß man einige Jahrzehnte zurückgehen.

Alles beginnt mit zwei relativ ernstzunehmenden Denkschulen, die als wissenschaftliche Legitimation für das dienen, was sich später auf sie beruft: die „Dekolonialen Studien“ (Decolonial Studies), die ihrerseits aus den „Subaltern Studies“ hervorgegangen sind, und die „Postkolonialen Studien“ (Postcolonial Studies), die beide vor allem in der Dritten Welt entstanden sind.

Die Postkolonialen Studien, die seit den 1990er Jahren populär geworden sind, haben ihren Ursprung in Lateinamerika. Sie werden hauptsächlich von südamerikanischen Autoren wie dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, dem argentinischen Semiotiker Walter D. Mignolo, dem puertoricanischen Soziologen Ramón Grosfoguel und dem kolumbianischen Philosophen Santiago Castro-Gómez repräsentiert. Unter marginaler Bezugnahme auf Frantz Fanon, vor allem aber auf den Literaturwissenschaftler Edward W. Said, betonen sie, daß die Kolonialisierung eine Form der erobernden Rationalität zur Anwendung brachte, die die ehemaligen kolonisierten Völker von ihren besonderen Lebensformen enteignete.

Die Postkolonialen Studien behandeln „Kolonialismus“ wie ein Gummiwort, das in jedem beliebigen Kontext verwendet werden kann, obwohl die Kolonisierung auf den verschiedenen Kontinenten sehr unterschiedliche Formen angenommen hat (im Gegensatz zu Lateinamerika hat die Kolonisierung Afrikas zum Beispiel nie die Form einer Siedlungskolonisierung angenommen, außer in Algerien). Dieser Konfusionismus wird von einem offensichtlichen Essentialismus begleitet, da die „postkolonialen“ Autoren den Westen und das westliche Denken als homogene Einheiten behandeln, die sie nie waren.

Die größte Verbreitung fand die „antikoloniale“ Thematik jedoch in den USA, zusammen mit dem Aufschwung der „Critical Race Theory“, wobei sie sich mit allerlei spezifisch nordamerikanischen Phänomenen verband: dem Aufschwung eines Neofeminismus, der in der Heterosexualität und der „Geschlechterteilung“ ein mit dem Patriarchat verbundenes Unterdrückungssystem sieht, der Erinnerung an Sklaverei und Rassentrennung, der Explosion der „Kämpfe um Anerkennung“, der Entfesselung der Rechte-Ideologie, der hysterischen Welle der Politischen Korrektheit, dem Aufstieg des narzißtischen Individualismus und dem des intoleranten Puritanismus. Hinzu kommt noch der Einfluß einer falsch verstandenen und schlecht verdauten „French Theory“ (Foucault, Deleuze, Derrida, Lyotard), die, nachdem sie auf dem Universitätscampus neu formuliert worden war, zu einem jargonartigen Pedantismus führte, der der Bewegung eine oberflächliche Legitimität verleihen sollte.

Die „indigenistische“ Ideologie, die die „dekoloniale Bewegung“ durchdringt, greift die hyperbolischen und kriminalisierenden Denunziationen auf, die vor dem Hintergrund des intellektuellen und neopuritanischen Terrorismus auf der anderen Seite des Atlantiks grassieren, und bemüht sich, den Glauben an einen „systemischen Rassismus“ (auch „struktureller“ oder „institutioneller“ Rassismus genannt) zu vermitteln, indem sie die Idee bestätigt, daß sich alle sozialen Beziehungen auf (einseitige) Beziehungen zwischen „Herrschenden“ und „Beherrschten“ reduzieren lassen. Houria Bouteldja, Gründerin der Partei der Eingeborenen der Republik in Frankreich, faßt das Fatale dieser Aussage wie folgt zusammen: „Niemand entgeht der Rassifizierung, weder Weiße noch Eingeborene. (...) Frankreich war ein Kolonialstaat und bleibt ein Kolonialstaat.“

Für die Vertreter dieses neuen Antikolonialismus teilt sich die Gesellschaft grundsätzlich in „Nicht-Rassifizierte“ und „Rassifizierte“, das heißt in Weiße und Nicht-Weiße. Die Rassifizierten umfassen die „Kinder der postkolonialen Einwanderung“ und ganz allgemein alle, die sich für einen „dekolonialen“ Ansatz engagieren. Es scheint ein und dasselbe erbliche Schicksal zu sein, daß die einen von Generation zu Generation die Rolle der Unterdrücker und die anderen die der Unterdrückten verkörpern. Bei jeder „nicht rassifizierten“ Person wird davon ausgegangen, daß sie von Grund auf rassistisch ist, weil sie Vorurteile „kolonialen“ Ursprungs geerbt habe. Bewußt oder unbewußt kann der weiße, heterosexuelle Mann („Cis-Gender“) der ihm zugewiesenen bösen Natur nicht entkommen. „Weißsein“ ist das Privileg, das sich aus der Tatsache ergibt, daß man weiß ist oder als weiß wahrgenommen, anerkannt oder kategorisiert wird.

Das Problem ist, daß in Europa der Rückgriff auf die „Kolonialität“ als universeller Erklärungsschlüssel völlig ins Leere läuft, da die Kolonialisierung nur ein kurzes Intermezzo in der Geschichte der Europäer war, nämlich von den 1880er bis zu den 1960er Jahren. Was die Sklaverei betrifft, die von allen Völkern praktiziert wurde, so wurde sie nur von den Weißen abgeschafft; in vielen Ländern Schwarzafrikas und des Nahen Ostens wird sie hingegen noch heute praktiziert. Schließlich wird vergessen, daß die Kolonialisierung insbesondere in Frankreich im wesentlichen ein Unternehmen der progressiven Linken war, die die Völker Afrikas und Asiens zur Philosophie der Aufklärung bekehren wollte, um ihnen zu ermöglichen, ihren „Rückstand“ gegenüber dem allgemeinen „Fortschritt“ aufzuholen.

Ein weiterer Fehler der Dekolonialen und Postkolonialen Studien besteht darin, das Kolonialsystem mit dem kapitalistischen System zu identifizieren, mit dem es historisch gesehen nur umstandsbedingt verbunden war. Der Kapitalismus wird lediglich als ein globales Wirtschaftssystem und Machtnetzwerk – das kapitalistische „Weltsystem“ – behandelt, das untrennbar mit einem auf dem Begriff der Rasse basierenden Kolonialismus verbunden sei. Der Kapitalismus wird so auf den Kolonialismus zurückgeführt, der wiederum auf die weiße Herrschaft zurückgeführt wird, während das Soziale durch das Rassische ersetzt wird. Damit wird alles, was das Wesen des Kapitalismus ausmacht, schlicht und einfach weggelassen. Daher auch die Verwendung des Begriffs „Kolonialität der Macht“, der in Wirklichkeit nicht viel aussagt. Was den Kapitalismus betrifft, so hat er inzwischen bewiesen, daß er nicht an einen bestimmten Kontext gebunden ist, sondern sich an jede soziale oder politische Situation anpassen kann, solange er nur einen Profit daraus zu ziehen vermag. Der Beweis dafür ist, daß die Herrschaft des kapitalistischen Systems in Ländern, die nie kolonisiert wurden, gleich war.

Die „dekoloniale“ Kritik zielt am genauesten, wenn sie sich darüber empört, daß der Kolonialminister Paul Reynaud auf der Kolonialausstellung 1931 in Paris behaupten konnte, daß „der Franzose aus Berufung Kolonialist ist“, weil die Franzosen „nicht im Namen einer Rasse sprechen, sondern im Namen einer menschlichen und sanften Zivilisation, deren Merkmal es ist, universell zu sein“. Sie vergißt jedoch diejenigen, die sich wie der Soziologe Gustave Le Bon, um nur ihn zu nennen, weigerten, die kollektiven Identitäten der kolonisierten Völker für substanzlos zu halten, und sich als erklärte Gegner einer Kolonialisierung behaupteten, in der sie bereits eine Möglichkeit sahen, der ganzen Welt eine spezifisch westliche Herrschaft aufzuzwingen, die sich mißbräuchlich als „universell“ darstellte.

Die Kolonialisierung hatte in der Tat ihre hellen und ihre dunklen Seiten. Negativ ist vor allem die Tatsache, daß sie das ethnische Gleichgewicht in Afrika durch das Aufzwingen künstlicher Grenzen zerstört und die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Überbevölkerung geschaffen hat, deren Auswirkungen wir heute sehen.

Die Vorstellung, daß die heutigen Probleme der europäischen Gesellschaften hauptsächlich durch die „koloniale Erinnerung“ oder das Erbe der Sklaverei erklärt werden können, ist aus diesem Grund lächerlich, ebenso wie die Vorstellung, daß die Kolonialisierung Frankreich bereichert hätte (in Wirklichkeit hat sie Frankreich immer mehr gekostet als eingebracht und immer nur eine Handvoll Privatpersonen und private Interessen bereichert).

Noch grotesker ist die Vorstellung, daß Rassismus nur von Weißen ausgehen, daß es keinen Rassismus gegen Weiße geben und, was noch schlimmer ist, daß kein Weißer aufgrund einer quasi genetischen Zwangsläufigkeit, die auf seinem Wesen laste, aufrichtig antirassistisch sein kann.

Die Anprangerung des „systemischen Rassismus“ führt in Wirklichkeit zu einer Verallgemeinerung des Rassismus. Mit Joseph de Maistre gesprochen, könnte man sagen, daß dieser Antirassismus nicht das Gegenteil von Rassismus ist, sondern ein Rassismus in umgekehrter Richtung. Der Dekolonialismus ist selbst nichts anderes als ein Kolonialismus in umgekehrter Richtung: Nach der früheren Kolonialisierung geht es nun darum, durch Masseneinwanderung in umgekehrter Richtung zu kolonisieren. Das Ziel ist nur allzu offensichtlich: die europäische Vergangenheit ausschließlich negativ und „beschämend“ und die koloniale Ideologie in karikierter Form darzustellen, zur „Reue“ aufzurufen, die öffentliche Meinung zu verunsichern und jede Form der positiven Bestätigung der europäischen Identität zu hemmen.

Der neue Antikolonialismus hat zwei Hauptfehler. Der erste ist der Anachronismus, der darin besteht, über die Vergangenheit zu richten und sie im Namen von Kriterien zu verurteilen, die der gegenwärtig vorherrschenden Ideologie entsprechen. Der zweite ist, daß die Vergangenheit im allgemeinen und der Kolonialismus im besonderen moralisch bewertet werden, obwohl er nur in historischer und vor allem politischer Hinsicht beurteilt und verstanden werden kann. Ein moralischer Blick auf die Geschichte bedeutet, nicht zu akzeptieren, was die Geschichte der Menschen schon immer war: ein tragisches Phänomen, das nicht nur in Begriffen wie „gut“ oder „böse“ verstanden werden kann. Der Kolonialismus kann kritisiert werden, aber dann muß er nicht aus moralischer, sondern aus politischer Sicht kritisiert werden.






Alain de Benoist, Jahrgang 1943, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschrift Eléments sowie Chefredakteur der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die „Unsichtbaren“ und die „Allgegenwärtigen“ („Eine dauerhafte große Kluft“, JF 51/21).

Foto: Plakat zur Pariser Kolonialausstellung 1931: Heute wird vergessen, daß die Kolonialisierung ein Projekt der progressiven Linken war, um die Völker Afrikas und Asiens zur Philosophie der Aufklärung zu bekehren