© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Als Atatürk Smyrna zu Izmir machte
Der Sieg gegen die Griechen fand Ende August 1922 seinen blutigen Höhepunkt mit der türkischen Einnahme der Hafenstadt an der Ägäis
Thomas Schäfer

Nach dem Ersten Weltkrieg begann der Kampf um die Erbmasse des Osmanischen Reiches, in dem Griechenland zu den aktivsten Protagonisten zählte, weil es der nationalistischen „Megali Idea“ von der Wiederherstellung eines hellenischen Großreiches unter Einschluß weiter Teile Kleinasiens anhing. Hieraus resultierten die Besetzung der strategisch wichtigen westanatolischen Hafenstadt Izmir (griechisch Smyrna) samt den umliegenden Gebieten am 15. Mai 1919 sowie der darauf folgende Griechisch-Türkische Krieg. In diesem verübten die Truppen Athens zeitweise auch Massaker an der türkischen Bevölkerung. Dennoch erhielt der griechische Ministerpräsident Eleftherios Venizelos das Zugeständnis des britischen Premiers David Lloyd George und dessen französischen Amtskollegen Alexandre Millerand, daß griechische Soldaten auch die Milne-Linie, also die Grenze der Griechenland auf der Konferenz von San Remo zugesprochenen Besatzungszone rund um Izmir/Smyrna, überschreiten durften. Der Grund hierfür war das Bestreben der Alliierten, die türkischen Milizen der Kuvâ-yi Milliye unter Mustafa Kemal Pascha, die gegen die Aufteilung des anatolischen Festlandes durch die Siegermächte kämpften, um jeden Preis zurückzudrängen.

Die von den Briten mit eigenen Kontingenten unterstützte griechische Offensive begann am 22. Juni 1920 und führte zu einigen Gebietsgewinnen. Gleichzeitig verstärkte sich aber der türkische Widerstand. Dieser gipfelte dann zwischen Januar und April 1921 in Siegen gegen die Invasoren in den beiden Schlachten von İnönü. Bei ihrem anschließenden Rückzug praktizierten die Griechen eine Strategie der „verbrannten Erde“; darüber hinaus töteten irreguläre griechische Einheiten namens Mavri Mira (Schwarzes Schicksal) zahlreiche türkische Dorfbewohner.

Im Juli 1921 starteten die Griechen ihre nächste Offensive, die zunächst bis fünfzig Kilometer vor Ankara führte, dann jedoch in der Schlacht am Sakarya in einem blutigen Fiasko endete. Danach bereitete Mustafa Kemal die türkische Armee auf den Großen Gegenschlag (Büyük Taarruz) vor, der am 22. August 1922 begann. Bereits acht Tage später erlitten die Griechen unter General Georgios Hatzianestis bei Dumlupınar eine erneute und diesmal vernichtende Niederlage. Daraufhin mußten die Reste der griechischen Streitmacht in kürzester Zeit alle seit 1920 besetzten Gebiete räumen und sich bis Izmir/Smyrna zurückziehen, wobei sie wiederum türkische Städte oder Dörfer dem Erdboden gleichmachte und Tausende Menschen ermordete.

Türkische Truppen metzelten Zehntausende Zivilisten nieder

Dem folgte das, was die Griechen „Kleinasiatische Katastrophe“ nennen: Am 9. September 1922 rückten die Truppen Mustafa Kemals in Izmir/Smyrna ein, aus dem die Soldateska Athens inzwischen auf dem Seeweg geflohen war. In der Stadt drängten sich zu diesem Zeitpunkt 500.000 griechische und armenische Einwohner beziehungsweise Flüchtlinge, von denen türkische Soldaten und Zivilisten wahrscheinlich 50.000 niedermetzelten, bevor sie am 12. September in deren Wohnvierteln Feuer legten.

Die überlebenden Christen konnten erst ab dem 24. September unter gräßlichen Umständen an Bord griechischer und alliierter Evakuierungsschiffe gehen, während die Türken Izmir/Smyrna übernahmen. Der damit faktisch eingeleitete Bevölkerungsaustausch wurde am 30. Januar 1923 mit einer bilateralen Konvention legalisiert. Insgesamt mußten 1922/23 über 1,25 Millionen Griechen aus Anatolien und 500.000 bislang in Griechenland lebende Türken ihre angestammte Heimat verlassen. Die Eroberung Izmirs/Smyrnas läutete das Ende der über dreitausendjährigen Geschichte des Griechentums in Kleinasien ein und gehört mitsamt den sonstigen gegenseitigen Grausamkeiten während des Griechisch-Türkischen Krieges zu den Hauptursachen für die noch heute bestehenden Ressentiments zwischen den beiden Nato-Mitgliedern an der Südostflanke Europas.