© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Die Rolle seines Lebens
Staatsschauspieler oder politischer Drehbuchschreiber: Die bemerkenswerte Biographie des ukrainischen Journalisten Sergii Rudenko über seinen Kriegspräsidenten Wolodymyr Selenskyj
Thomas Fasbender

Im Krieg hat der hochbegabte Schauspieler Wolodymyr Selenskyj seine Lebensrolle gefunden. Vor allem im Medienkrieg, der seit Februar auf Twitter, Instagram und in zahllosen Telegram-Kanälen tobt. Die Allpräsenz ukrainischer Sichtweisen und Narrative hat nicht nur damit zu tun, daß die Ukraine das Angriffsopfer ist oder auf „unserer“ Seite steht. Auch nicht nur damit, daß die russische Kriegs-PR die Strahlkraft sterbender Wargs besitzt – der hypertrophen Wölfe im „Herrn der Ringe“, die Sarumans Orks in den Kampf tragen.

Selenskyjs wohl größtes Talent ist die Projektion von Glaubwürdigkeit. Diese Gabe hat ihn fast handstreichartig ins Präsidentenamt befördert, sie bewegt Parlamentarier auf der ganzen Welt zu stehenden Ovationen, sie bestärkt Korrespondenten aller Nationen – mit Ausnahme der russischen – in dem Glauben, daß seine Worte, Handlungen und Motive so lauter wie authentisch sind. 

Die jüngst in aktualisierter Version erschienene Biographie des ukrainischen Journalisten Sergii Rudenko dokumentiert, wie Selenskyj und andere um 2015 das politische Potential dieses Talents erfaßt. Das geschah vor dem Hintergrund der TV-Serie „Diener des Volkes“. Selenskyj spielt darin den Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko, der zufällig und wider Willen zum Staatspräsidenten gewählt wird. Naiv und unerfahren kollidiert er mit allen Untiefen des Amts – und gewinnt die Herzen der Zuschauer. Die zweite Staffel endete 2017; eine dritte wurde rechtzeitig zum Präsidentschaftswahlkampf 2019 ausgestrahlt.

Dem politischen Erfolg geht eine zwanzigjährige Karriere als Schauspieler, Produzent und Initiator neuer Medienprojekte voraus, vor allem im humoristischen Fach. Als 19jähriger debütiert Selenskyj 1997 im „Klub der Witzigen und Schlagfertigen“ (KWS), einem seit den frühen 1960ern ausgestrahlten und in den Ländern der Ex-UdSSR heute noch prominenten Kultformat. In mehreren Ligen, heiß beklatscht von den jeweiligen Anhängern, wetteifern dort lokale Teams mit Sketchen und Stand-up-Einlagen. Die Breitenwirkung des Formats läßt sich kaum überschätzen. In der Sowjetunion erlaubte der hohe Beliebtheitsgrad, die Grenzen politischer Korrektheit auszutesten. So wurde KWS zum Sprungbrett vieler späterer Medienstars.

Schon Selenskyjs erste Auftritte geraten zur Weichenstellung. Seine Truppe „Transyt“ arbeitet sich bis ins Moskauer Finale vor und erringt ein Unentschieden gegen die von der Jury favorisierten Gegner. Als er KWS 2004 verläßt und beginnt, eigene Sendungen zu produzieren, begleitet ihn ein loyales Team, auf das er sich fest verlassen kann. Als „Kwartal 95“, benannt nach Selenskyjs Heimatort, einem Stadtviertel von Krywyh Rih, waren sie sechs Jahre lang erfolgreich. Selenskyj ist der unangefochtene Frontmann und Organisator, doch nichts deutet auf eine politische Karriere oder auch nur politisches Interesse hin. Was auffällt, ist die Intensität, mit der Selenskyj und seine Mitspieler bei der Sache sind. „Sie haben wirklich geweint“, erinnert sich der damalige Chef des TV-Senders Oleksandr Rodnjanskyj, „da habe ich verstanden, daß das für sie gar kein Spiel ist“. Sie könnten alles, fügt er hinzu.

Konsens zwischen den Oligarchen ermöglichte seine Präsidentschaft

Doch Selenskyj bleibt bei seinem Leisten; er spielt und macht sich lustig, auch nachdem im Dezember 2015 der Politikexperte Wiktor Bobyrenko an prominenter Stelle den Artikel „Warum Selenskyj der nächste Präsident wird“ veröffentlicht (auffallend früh, die Ausstrahlung von „Diener des Volkes“ hat erst begonnen). Noch im Sommer 2016 reißt Selenskyj vor einem überwiegend russischen Publikum im lettischen Ostseebad Jurmala billige Witze: „Die Ukraine ist wie eine Darstellerin in einem deutschen Porno: Kriegt nie genug und am liebsten von allen Seiten.“ Vielleicht lösen die aufgebrachten Reaktionen ein Umdenken aus. Er erklärt, der Witz sei eine Kritik an den Machthabern gewesen, am Poroschenko-Regime. Er distanziert sich: „Wir sind Kwartal! Wir sind Patrioten!“

Rudenko meint, möglicherweise habe die Episode ihn bewogen, nach dem Präsidentenamt zu greifen. Er unterstreicht die Rolle der Oligarchen, der Superreichen, bei der Kandidatenkür damals wie heute. 2016 ist es Ihor Kolomojskyj, der gute Gründe hat, Petro Poroschenkos Präsidentschaft zu beenden. Kolomojskyj gehört auch der TV-Kanal, auf dem „Diener des Volkes“ läuft. Ende 2017, lange vor Selenskys offizieller Kandidatur, benennt er die von ihm unterstützte „Partei des entschlossenen Wandels“ in „Diener des Volkes“ um.

Mit Selenskyjs Wahl zum Präsidenten im April 2019 beginnt eine Serie der Enttäuschungen; Rudenko nimmt kein Blatt vor den Mund. Statt des versprochenen Endes der Vetternwirtschaft ersetzt der neue Präsident die alte Garde mit eigenen Leuten. Der Biograph listet 29 Namen auf – alte Weggefährten in höchsten Staatsämtern. Im weiteren geht es nur noch um Pfründen und Macht. Rudenko fällt gar nicht auf, daß er so gut wie keine politischen Inhalte thematisiert. Die politische Klasse scheint sich nur um den Machterhalt zu drehen, um das Infighting der Clans und Fraktionen – durchaus ähnlich den Verhältnissen in Rußland vor 2000.

Auch wenn der Biograph Selenskyjs Auftreten seit dem russischen Angriff in höchsten Tönen lobt, die Mobilisierung der Bevölkerung und der Unterstützer im Westen – eine letzte Frage bleibt unbeantwortet: Ist der ukrainische Präsident nur ein perfektes Instrument der Kriegs-PR, der beste Präsidentenschauspieler, oder schreibt er auch das Drehbuch? Rudenko zitiert den Politikexperten Bobyrenko. Der hat inzwischen den nächsten Amtsinhaber vorhergesagt: Witalij Klitschko. Damit jemand ukrainischer Präsident werden könne, brauche es nur den Konsens der Oligarchen: „Wenn Achmetow, Pintschuk, Firtasch aus Wien und Awakow sich einig werden, werden sie auf ihn setzen.“






Dr. Thomas Fasbender lebt als Publizist in Berlin. 2022 veröffentlichte er das Buch „Wladimir Putin. Eine politische Biographie“ (Manuscriptum Verlag).

Sergii Rudenko: Selenskyj. Eine politische Biografie. Carl Hanser Verlag, München 2022, gebunden, 224 Seiten, 24 Euro

Foto: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im grünen Armee-Hemd wird am 23. Mai 2022 per Video auf die Konferenz des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos zugeschaltet: Es geht nur noch um Pfründe und Macht