© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/22 / 09. September 2022

Schwarze Vielfalt
Die Wave- und Gotik-Szene feiert sich, doch der Nachwuchs macht sich rar
Christine Müller-Mey

Buntheit ist in aller Munde: Wer politisch auf der angeblich „korrekten“ Seite steht, bezeichnet sich gern als „bunt“, die LGBTQ-Szene schmückt sich mit dem Regenbogen, um die (vermeintliche) Buntheit der Geschlechter zu demonstrieren, „bunt“ sein ist angesagt, ist „woke“ und gilt im öffentlichen Narrativ als allgemein positiv. Wem aber dieses ganze Buntheitsgetrommel zu laut, zu schrill und zu oberflächlich ist, der wendet sich ab und sucht nach einem Kontrastprogramm, nach Schönheit und Romantik, nach Tiefe und Wahrhaftigkeit, ja auch nach innerer Heimat – und findet auf seiner Suche vielleicht auch zur „schwarzen Szene“. 

Die schwarze Szene entstand in den 1980er Jahren aus verschiedenen Stilrichtungen der Independent-Musikszene und entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer eigenständigen, äußerst facettenreichen – ja, man könnte fast sagen, ihrerseits auf eigene Art „bunten“, aber keineswegs aufdringlichen – Subkultur, deren verbindendes Element die Liebe zu düsterer Musik und Literatur und natürlich zur „Nicht-Farbe“ Schwarz ist. 

Da gibt es die klassischen Goths mit Hang zu düsterer Romantik und Gewändern im Stil des 18. und 19. Jahrhunderts, Neofolker, die in trachten- oder uniformähnlicher Kleidung Gitarrenklängen am Lagerfeuer oder martialischem Getrommel lauschen, kantig frisierte, ebenfalls gern uniformartig gekleidete Fans harter elektronischer Beats, Frauen in Pünktchenkleidern und Petticoats, die den Charme der 1950er Jahre wiederaufleben lassen und Teile der Mittelalter- wie auch der Metalszene, die sich unter dem „Dach“ der Schwarzen Szene zusammenfinden. Auch die Fetischfraktion findet ihre Nische. Und natürlich gibt es zwischen all diesen Strömungen viele Überschneidungen – man kann von einer „schwarzen Vielfalt“ sprechen.

Politisch läßt sich die Szene keiner bestimmten Richtung zuordnen, auch wenn böse Zungen manche Künstler und Strömungen gern in eine „rechte“ Schublade stecken würden. Das gilt besonders für den Neofolk, da viele Bands dieser Stilrichtung einen positiven Heimatbegriff und eine Atmosphäre neu-folkloristischer Romantik transportieren, sei es mit Vertonungen deutscher und europäischer Dichter oder der Hinwendung zu den Mythen und Sinnzeichen der Ahnen. Doch wäre es einfach zu billig, ja sogar falsch, hier von „rechten“ Bands zu sprechen, denn – davon abgesehen, daß sich einige Künstler dezidiert gegen solche Zuweisungen verwahren und auch Vereinnahmungen durch entsprechende Kreise von sich weisen – es geht auch im Neofolk nicht um Politik, sondern vielmehr um eine gewisse Ästhetik und eine damit verbundene innere Hinwendung zum Schönen, aber auch um die Suche nach Identität und – was kennzeichnend für die schwarze Szene im Allgemeinen ist – die Auseinandersetzung mit dem Tod, den „dunklen“ Bereichen des Lebens und den Abgründen der Psyche. 

Man könnte sagen, es ist überwiegend der „faustische“ Menschentypus, der von dieser Subkultur angezogen wird, stets auf der Suche nach Spiritualität, nach dem „was die Welt im Innersten zusammenhält“.  So verwundert es auch nicht, daß es keine festgelegte religiöse Verortung der schwarzen Szene gibt. 

Man trifft auf Heiden verschiedener Richtungen, auf neue Hexen und Okkultisten, auf Christen wie auch auf ausgemachte Atheisten. Da dieser faustische Drang vor allem in Europa und in Kulturen mit zumindest teilweise europäischer Prägung vorkommt, überrascht es nicht, daß die schwarze Szene eine zwar internationale, aber doch weitgehend europäische ist. 

Das europaweit größte Event der gesamten schwarzen Szene ist das Wave-Gotik-Treffen, das seit 1992 nahezu alljährlich zu Pfingsten in Leipzig stattfindet und das 2023 sein 30. Jubiläum feiert. Von einer eher kleinen zweitägigen Veranstaltung mit acht Bands und um die 2.000 Gästen entwickelte sich das Treffen im Lauf der Jahre zu einer viertägigen Großveranstaltung mit an die zweihundert Künstlern und im Schnitt etwa 20.000 Besuchern aus aller Welt – und damit auch zu einem wahren Wirtschaftsfaktor für die Stadt Leipzig. 

Gefühlt liegt das Mindestalter der Aktiven bei mindestens 40plus 

Das Wave-Gotik-Treffen wird bewußt als ein Treffen und nicht als ein Musikfestival bezeichnet – und es unterscheidet sich tatsächlich von einem solchen. Denn anders als bei einem Musikfestival treten nicht nur Bands auf, sondern es gibt zum Beispiel auch Lesungen, Vorträge und Filmvorführungen, ein Viktorianisches Picknick, Friedhofsführungen und einen Leichenwagenkorso. Und während Festivals an einem festen Ort oder auf einem bestimmten Areal stattfinden, verteilen sich die Veranstaltungen des WGT in der ganzen Stadt. 

Zwar gibt es Ballungspunkte wie das AGRA-Messegelände oder das in fußläufiger Entfernung dazu liegende Heidnische Dorf, das im Rahmen des WGT mit einem eigenen Programm aufwartet, aber Konzerte finden auch an vielen Orten in ganz Leipzig statt, zum Beispiel im noblen Schauspielhaus, in der malerischen Kirchenruine Wachau oder im Volkspalast auf dem Gelände der Alten Messe.

Was als Jugendsubkultur in den achtziger und neunziger Jahren entstand, kommt heute naturgemäß in die Jahre: waren graue Häupter unter Besuchern wie auch Künstlern noch 2005 eine Seltenheit, vor der man innerlich mit Hochachtung den Hut zog, so begegnen sie einem heute immer häufiger. Gefühlt liegt das Durchschnittsalter in der Szene mindestens bei 40plus. Von einer Jugendsubkultur kann keine Rede mehr sein. Es sind weitgehend wohl noch immer die gleichen Konzertbesucher, zum großen Teil auch die gleichen Künstler wie vor zwei, drei Jahrzehnten, nur daß natürlich alle älter geworden sind. Nachwuchs ist eher rar.

Foto: Festivalbesucher beim 29. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, Anfang Juni 2022: Düstere Romantik auf Schritt und Tritt