© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Keine Panik, wir sinken
Deindustrialisierung: Wohlstand und Lebensniveau breiter Schichten sind in Gefahr / Wo bleibt der Aufschrei?
Markus Brandstetter

Wirtschaftsminister Habeck weiß nicht, was eine Insolvenz ist. Das ist verzeihlich, denn Habeck ist im Hauptberuf Germanist, Schriftsteller und Theaterautor. Die Geschäftsführer des Toilettenpapierherstellers Hakle, der Schuhhandelskette Görtz und des Automobilzulieferers Dr. Schneider wissen allerdings sehr gut, was eine Insolvenz ist, denn sie alle haben kürzlich für ihre Unternehmen eine solche anmelden müssen.

In Presseerklärungen haben die Chefs tapfer verkünden lassen, daß sie ihre Unternehmen in Eigenverwaltung mit Unterstützung des Insolvenzverwalters sanieren und selbstverständlich alle Arbeitsplätze erhalten wollten, aber das wird nicht so kommen. Eine Sanierung in Eigenverwaltung gelingt nur selten und praktisch nie mit der gesamten Belegschaft an Bord. Wenn der Winter kommt, die drei Unternehmen Löhne und Gehälter wieder selbst zahlen müssen, die explodierenden Energiepreise richtig zuschlagen und die Inflation zweistellig ist, dann wird von diesen drei Vorzeigenamen aus Handel und Industrie nicht mehr viel übrig sein – auf keinen Fall die florierenden Betriebe, die sie einmal waren.

Schuld an diesem Niedergang sind nicht Managementfehler, sondern die rasant steigenden Energiepreise, die Herstellungskosten bis ins Absurde steigern, und die galoppierende Inflation, die den Menschen Einkaufen und Geldausgeben verleidet. Die Gründe für Energiekrise und Inflation sind nicht Klimawandel, Naturkatastrophen, Ukrainekrieg und auch nicht die gegrillten Fledermäuse auf dem Wuhaner Wochenmarkt, sondern von Politikern über Jahre und Jahrzehnte getroffene Fehlentscheidungen.

In dieser Situation würde man ein energisches Intervenieren der deutschen Industrie- und Wirtschaftsverbände erwarten. Jetzt könnten die Vereinigungen, die sonst stets mit gestylten Internetauftritten, wirtschaftlichen Schönwettermeldungen und branchenspezifischen Siegesmeldungen glänzen, einmal nachdrücklich auf den Ernst der Lage hinweisen und laut sagen, daß Deutschlands industrielle Basis gefährdet ist wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Daß Arbeitslosigkeit, Pleiten, Betriebsschließungen und die Abwanderung ganzer Industrien drohen. Sie könnten auf Frankreich hinweisen, wo die von der Politik verursachte Deindustrialisierung ganzer Landesteile zu Armut, kaputten Städten und sozialen Problemen geführt hat, die seit Jahrzehnten andauern. Sie könnten mit dem Finger auf England zeigen, wo es, wie der Economist kürzlich festgestellt hat, seit 15 Jahren kaum noch Wachstum gibt und der vielgepriesene Umstieg von der Produktions- auf die Informationsindustrie zum sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten, einem maroden Gesundheitssystem und einer tief gespaltenen Bevölkerung geführt hat.

Aber die großen Vorsitzenden unserer Wirtschaftsverbände haben nichts dergleichen gesagt. Die haben durch die Bank den Burgfrieden mit der Regierung gewahrt und, wie beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie, lediglich höflich angemerkt, daß das Entlastungspaket der Bundesregierung „erhebliche Mängel und Lücken“ aufweise, insgesamt „enttäuschend und unkonkret“ sei, man dafür aber „unkomplizierten Zugang zu angemessenen Hilfsleistungen erwarte“ – so als seien schuldenfinanzierte Almosen neben hohen Steuern das Einzige, was Unternehmer noch vom Staat erwarten könnten. Kaum anders äußerte sich der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), dessen Präsident der Regierung dafür dankt, daß sie „mit dem Entlastungspaket soziale Härten vermeiden will“, und den Finanzminister schon einmal vorsorglich vor einer „Schieflage der öffentlichen Haushalte durch Milliardenschulden“ warnt – anstatt zu sagen, daß die vom VDMA vertretenen 3.400 Unternehmen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden und wir ohne sie die ganzen Hilfspakete gleich ganz vergessen können. 

Den Vogel der Demut abgeschossen haben jedoch Präsident und Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, die schon im voraus für hohe und komfortabel zu beantragende Kurzarbeitergelder dankten und dann untertänigst mitteilten, daß die Metaller, „um Strom zu sparen“, auch „von zu Hause aus arbeiten würden“ – vermutlich am eigenen Miniatur-Hochofen. Der einzige, der von Anfang dieser Krise an laut und deutlich gesagt hat, was auf uns zukommt, ist Martin Brudermüller, der Chef der BASF. Der hat bereits im April vor „historisch beispiellosen Gefahren für die Chemieindustrie“ gewarnt und gefragt, ob wir „sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören wollen?“, wofür er im Kommentar einer einst wirtschaftskompetenten Frankfurter Zeitung verlacht wurde.

Deutschland ist eine korporatistische Konsensgesellschaft, in der Arbeitgebervertreter, Gewerkschaften und die Politik sich in Jahrzehnten daran gewöhnt haben, weitgehend einvernehmlich zusammenzuarbeiten, um Arbeitskämpfe, bei denen Arbeitgeber- und -nehmer gleichermaßen verlieren, zu vermeiden. In guten Zeiten funktioniert das gut, in schlechten aber nicht. Und wir steuern gerade auf extrem schlechte Zeiten zu. Da brauchen wir keine Wirtschaftsverbände, die aus falsch verstandenem Harmoniebedürfnis mit den Vertretern einer verheerenden Wirtschafts- und Energiepolitik kuscheln, weil sie im Hinterkopf haben, daß der Staat mit endlosem „Deficit-Spending“ sich auch aus dieser Krise herausmogeln wird. Nein, da brauchen wir Leute, die diesen ruinösen Pakt aus Politik und Wirtschaft aufkündigen und laut sagen, daß ohne eine jederzeit belastbare Energieversorgung und international wettbewerbsfähige Energiepreise Wohlstand und Lebensniveau breiter Schichten in Gefahr sind.

Wer denkt, daß so etwas in Deutschland nicht geht, der muß in die Geschichte schauen. Da wird er sehen, daß fast auf den Tag genau vor 40 Jahren, am 9. September 1982, der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) sein berühmtes „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vorlegte. Dieses Papier war eine Reaktion auf Inflation, Nullwachstum, Arbeitslosigkeit und die explodierende Staatsverschuldung der 1980er Jahre. Einen solch mutigen Vorstoß, mit dem eine neue, industriefreundliche Energiepolitik gefordert wird, bräuchten wir in veränderter Form auch heute. Früher war nicht alles besser, aber manches schon: So verstanden frühere Wirtschaftsminister tatsächlich öfter was von Wirtschaft. Otto Graf Lambsdorff zum Beispiel war zwar kein Autor weltberühmter Romane und Theaterstücke, aber Volljurist, Banker, Rechtsanwalt und Mitglied in Vorständen und Aufsichtsräten.