© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

„Es ist wie Gehirnwäsche“
Krise: Sind Pandemie und Krieg allein die Ursache der Inflation? Nein, mahnt der Ökonom Christian Seidl. Seit Jahren täuscht die EZB die Bürger darüber, daß ihre Geldpolitik die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen hat
Moritz Schwarz

Herr Professor Seidl, „Rekordzins“, „historische Erhöhung“, „Zins-Hammer“ – die Attribute der Medien überschlagen sich angesichts der jüngsten EZB-Leitzinserhöhung. Zu Recht?

Christian Seidl: Im Vergleich zum langjährigen „natürlichen“ Zinssatz von rund drei Prozent ist der gegenwärtige Zinssatz noch immer viel zu niedrig.

Also ist die jetzige Leitzinserhöhung um 0,75 auf 1,25 Prozent nicht genug, um die Inflation zu bekämpfen?

Seidl: Als es 1980 in den USA um effiziente Inflationsbekämpfung ging, stieg der Zinssatz auf zwanzig Prozent! Die EZB läßt sich offenbar weiterhin von ihrer Rücksicht auf die Mittelmeerländer leiten.

Das ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ hat jüngst die Gründe für die Inflation erklärt – schuld seien die „drei D“: Deglobalisierung, Demographie und Dekarbonisierung. Ist das so einfach?

Seidl: Das ist schon richtig, alle drei sind treibende Faktoren: Die Unterbrechung von Lieferketten durch Pandemie und Krieg, der demographisch bedingte Arbeitskräftemangel und die zusätzlichen Kosten, die durch die Energiewende entstehen. Fragwürdig wäre aber, falls in der Sendung der Eindruck erweckt worden sein sollte, die „drei D“ seien alles und wesentliche andere Faktoren nicht erwähnt worden sind. Das jedoch würde zur derzeit beliebten Methode passen, Fehler der Vergangenheit hinter aktuellen Entwicklungen zu verstecken.

Zum Beispiel?

Seidl: Etwa die Geldpolitik der EZB. Die scheut ja seit Jahren keine Mühe, den Bürgern quasi eine Gehirnwäsche zu verpassen: indem sie Preisstabilität – nach Artikel 127, Paragraph 1, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) das Hauptziel der EZB – mit dem Ziel einer anzustrebenden Inflation von zwei Prozent gleichsetzt.

Wieso ist das „Gehirnwäsche“?

Seidl: Weil es an George Orwells „Neusprech“ aus seinem dystopischen Roman „1984“ erinnert, etwa: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissenheit ist Stärke“. Mit solchen Gleichsetzungen wird in „1984“ versucht, den Menschen einzubleuen, zwei einander ausschließende Sachverhalte seien ein und dasselbe. Ähnlich versucht die EZB, „Preisstabilität“ und „Inflation von zwei Prozent“ zu einem identischen virtuellen Konzept zu verschmelzen.

Weshalb schließen die beiden Ziele einander aus? Ist eine gewisse Inflation nicht die „natürliche“ Folge von Wachstum, gehört also zur Preisstabilität dazu?

Seidl: Nein, Inflation ist kein zwangsläufiges Phänomen. Wenn Geld nicht vermehrt wird, sinkt seine Kaufkraft auch nicht – ein so paradiesischer Zustand herrschte übrigens im 19. Jahrhundert zur Zeit der Goldwährungen. Daß Sie und viele andere heute glauben, Inflation sei Bestandteil der Preisstabilität, ist die Folge eben jener Orwellschen Vision.

Was aber hat all das mit der aktuellen Inflation zu tun? Denn das lange geltende „Zwei Prozent Inflation“-Ziel der EZB ist ja leider längst perdu.

Seidl: Seit der Euro-Krise 2008 ist die EZB bekanntlich dabei, auf Biegen und Brechen Geld zu drucken – und das ist eine notwendige Bedingung einer Inflation! Dagegen wird eingewendet, die Inflation habe doch bis 2020 bei den gewünschten zwei Prozent gelegen. Stimmt zwar, aber das bedeutet nicht, daß die Inflation bis dahin moderat war.

Wieso nicht? Zwei Prozent klingen doch moderat.

Seidl: Erstens, zwei Prozent sind gar nicht so harmlos, wie die meisten Leute glauben. Denn das bedeutet eine Halbierung der Kaufkraft gegenwärtiger Ersparnisse in nur rund dreißig Jahren! Zweitens sind die zwei Prozent Folge des Umstandes, daß die EZB die Inflation als Verbraucherpreisindex mißt. Was bedeutet das? Nun, in normalen Zeiten übersteigt die Produktionskapazität von Konsumgütern die Nachfrage und so kann der Verbraucher alles bekommen, was er bezahlen kann – sprich, es gibt keine Waren­engpässe. Während der Wettbewerb zwischen den Produzenten einen Anstieg der Konsumgüterpreise verhindert. Die auf diese Weise gemessene Inflation – also über die Konsumgüterpreise – bleibt somit bescheiden. Für Investitionsgüter allerdings gelten andere Regeln: Immobilien sind knapp, Wohnungen sind mittelfristig knapp, Antiquitäten und Kunstgegenstände sind knapp, Aktien sind nicht beliebig vermehrbar. Aufgrund des festen Angebots werden deren Preise in die Höhe schießen, solange es eine ausreichende Geldmenge und niedrige Zinssätze gibt. Zwischen 2008 und 2020 sind etwa die Immobilienpreise in deutschen Mittelstädten um 107 Prozent gestiegen! Das entspricht einem jährlichen Preisanstieg von 6,25 Prozent.

Sie meinen, die zwei Prozent Inflation waren, durch das Weglassen der Investitionsgüter schöngerechnet?

Seidl: Ja, denn geht man davon aus, daß die Haushalte etwa ein Viertel ihrer Ausgaben für Investitionsgüter ausgeben, ergibt sich in Wahrheit eine realistische Inflationsrate von 3,5 Prozent jährlich zwischen 2008 und 2020, also fast das Doppelte!

Gilt das auch für unsere derzeitige Inflation?

Seidl: Natürlich.

Das heißt, nach Ihrer Ansicht haben wir derzeit nicht etwa acht Prozent Inflation?

Seidl: Tatsächlich wohl eher elf Prozent! Wenn man auch hier die Ausgaben für Investitionsgüter mitrechnet, wie man es eigentlich tun muß.

Woher kommt nun der massive Inflationsanstieg, der uns so zu schaffen macht – auch durch die EZB-Politik?

Seidl: Konkreter Anlaß dafür war, daß infolge der Corona-Pandemie und der Lockdowns in mehreren Ländern, vor allem in China, Lieferketten zusammenbrachen, blockiert waren oder Verluste aufwiesen. Dies führte weltweit zur Verknappung von Rohstoffen und Zwischenprodukten, was die Produktion behinderte und die industriellen Erzeugerpreise stark steigen ließ. Rohstoffe wurden knapp und infolge steigender Preise rationiert, was die Inflation seit 2021 anheizte. Doch die einzige Reaktion der EZB bestand darin, weiter auf Biegen und Brechen Geld zu drucken – so als ob ein dünner Mann an Gewicht zulegen könnte, indem man einfach seine Kleidung weiter macht. Und so geht das schon lange. So belief sich die EZB-Geldmenge kurz vor der Lehman-Pleite 2008 noch auf nur 876 Milliarden Euro – bis 2021 stieg sie dagegen auf rund sechs Billionen Euro an!

Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat es so formuliert: Krieg und Pandemie seien zwar die Funken, die das Feuer der Inflation nun entfachte haben – der Zunder aber sei die EZB-Geldpolitik.

Seidl: So ist es! Spätestens seit der damalige EZB-Präsident Mario Draghi 2012 seine berühmten, geflügelten Worte verkündete: „Whatever it takes!“ – also man werde den Euro „retten“, „was immer es auch koste“ – hat die EZB im Bereich der Geldpolitik die Vorherrschaft über die demokratisch gewählten Regierungen der Euro-Mitgliedsländer an sich gerissen. Denn die Verträge, auf welchen der Euro beruht – die AEUV –, verpflichten eigentlich dazu, der von den Parlamenten beschlossenen Fiskalpolitik Vorrang vor der Geldpolitik zu geben. Aber obwohl sie im Gegensatz zu den Parlamenten keine demokratische Legitimation besitzt, hat die EZB diesen Grundsatz durch vollendete Tatsachen untergraben und stattdessen den Vorrang der Geldpolitik vor der Fiskalpolitik durchgesetzt! Und das mit freundlicher Unterstützung der Politik – die in Wahrheit natürlich froh darüber ist, daß nicht sie die Gesetze der AEUV brechen muß, sondern daß sie das an eine autoritäre Institution, wie sie die EZB darstellt, abschieben kann. Die ist nämlich im Gegensatz zu demokratisch gewählten Institutionen niemandem rechenschaftspflichtig, und ihr Präsident genießt weitgehende Immunität. Daß die Mittelmeerländer im EZB-Rat – in welchem wegen eines Konstruktionsfehlers jedes Land über genau eine Stimme verfügt, also Malta ebenso wie Deutschland – die Mehrheit haben, erklärt deren Dominanz in der Geldpolitik. Mangels ökonomischen Wissens durchschaut die Bevölkerung die darin liegende Gefahr aber nicht.

Wie groß ist denn der Anteil, den die EZB-Politik an der Inflation hat – kann man das ausrechnen?

Seidl: Nein, das ist zu komplex, weil es von zu vielen Einflußfaktoren abhängt. Aber wir können uns zum Beispiel mit der Schweiz vergleichen. Die hat statt acht nur etwa zwei Prozent Inflation – obwohl sich die Schweiz und Deutschland in einem ähnlichen Umfeld befinden.

Soll das heißen, daß – da die Schweiz nicht im Euro ist – sechs der acht Prozent Inflation derzeit auf die EZB-Politik zurückgehen? Widerspricht das allerdings nicht Ihrer Aussage eben, wonach vor allem Corona und der Ukrainekrieg an ihr schuld sind?

Seidl: Von 2008 bis 2022 stieg das Geldvermögen in Deutschland von vier auf 7,5 Billionen Euro. Doch in erheblichem Ausmaß wurde die Geldmenge neutralisiert – sprich: gespart. Sie konnte daher für Preissteigerungen infolge von Lockdowns und Krieg verausgabt werden, was die Inflation anheizte. Übrigens, was die Sanktionen gegen russische Rohstoffimporte betrifft, hat die EU überzogen – was für ein Eigentor!

Was empfehlen Sie?

Seidl: Druck auf Putin kann durch Exportsanktionen westlicher Technologie effektiv ausgeübt werden. Sanktionen auf Rohstoffimporte aber treffen uns härter als ihn. Der türkische Präsident Erdoğan brachte die Sache jüngst auf den Punkt, als er sagte, der Westen fahre nunmehr die Ernte ein, die er selbst gesät habe. Der Krieg kann mit Verzicht auf Rohstoffimporte nicht gestoppt werden. Denn alles was Rußland braucht, um ihn zu führen, Waffen, Ausrüstung, Munition, ist längst produziert. Und was den Sold für seine Soldaten angeht – das kann Putin lösen wie Draghi die Euro-Rettung: Er druckt einfach die nötigen Rubel. Was also sollen diese Sanktionen? Würde statt dessen Nordstream 2 eröffnet, dürfte sich unsere Inflation mindestens halbieren!

Gilt das, was für diese Rußland-Sanktionen gilt, nicht auch für die EZB-Politik? Deren Änderung müßte doch ebenfalls die Inflation senken, oder?

Seidl: Natürlich! Denn der Euro-Raum ist heute im Grunde eine Transferunion. Das heißt also, nicht nur der Sprung der Euro-Geldmenge von 876 Milliarden Euro auf rund sechs Billionen Euro geht auf die EZB-Politik zurück. Dieser Prozeß setzt sich auch heute ständig fort, denn wir kommen ja auch weiterhin für die Abdeckung der Budget- und Außenhandelsdefizite der schwachen Euro-Länder auf. Würde diese Transferunion beendet, würde das die Inflation natürlich entlasten. Darauf besteht aber wohl kaum Aussicht, denn eine Klage dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht ist im Grunde gescheitert, da Karlsruhe lediglich verfügt hatte, die EZB müsse binnen drei Monaten nachweisen, daß die Transferhilfen verhältnismäßig seien. Allerdings hat die EZB ihrer schriftlichen Begründung das Attribut „vertraulich“ – also geheim – gegeben, womit niemand Einblick nehmen darf. Wir wissen also gar nicht, was drinnen steht und ob es tatsächlich überzeugend ist. Sondern wir müssen damit leben, daß es das Bundesverfassungsgericht eben für überzeugend hält. Ich habe dessen damaligem Präsidenten eine E-Mail geschrieben mit der Frage, weshalb man der Bundesbank nicht eine Beteiligung an den Hilfen verboten habe und eine Aufhebung des Verbots im Falle einer überzeugenden Begründung in Aussicht gestellt habe. Dann hätte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Biß gehabt und die Geheimniskrämerei wäre nicht möglich gewesen. Aber natürlich habe ich nie eine Antwort auf meine Frage erhalten.

Sie kritisieren auch das neue Ankaufprogramm der EZB, Stichwort „Offenmarktpolitik“. Um was geht es?

Seidl: Die Idee der Offenmarktpolitik ist, daß die EZB damit Wertpapiere kaufen und verkaufen darf. Doch tatsächlich verkauft sie gekaufte Papiere gar nicht mehr – sondern hält sie bis zu ihrer Fälligkeit und zum Teil darüber hinaus. So mißbraucht die EZB die Offenmarktpolitik, um Staaten zu finanzieren, indem sie deren Wertpapiere kauft und hält – statt damit zu handeln, wie es die Offenmarktpolitik eigentlich vorsieht! Mißbrauch wendet sie zudem bei Fälligkeit der Anleihen an: Ein Land begleicht seine Schulden – die EZB kauft ihm jedoch in gleicher Höhe Wertpapiere ab, so daß es seine geleistete Schuldentilgung sogleich wieder zurückbekommt. Ja, mitunter kauft die EZB sogar mehr Wertpapiere als die reine Schuldentilgung ausmacht, wie das derzeit für Italien zutrifft, wo weniger fällige deutsche Anleihen ersetzt werden, um dafür über Gebühr mehr italienische Anleihen anzukaufen. Dabei bleibt die Gesamtsumme der ersetzten Wertpapiere unverändert, doch wird ihre Struktur verändert. Das alles ist zwar Mißbrauch, wird aber von der EZB ständig und in allen möglichen Formen gemacht. Wer aber meint, all das hätte nichts mit ihm zu tun, der irrt – zum Beispiel, wenn er in Zukunft unter steigender Inflation stöhnt.






Prof. Dr. Christian Seidl, der Emeritus war zuletzt Professor für Öffentliche Finanzen und Institutsdirektor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zuvor lehrte er unter anderem in Linz, Graz und Wien und wirkte als Experte für die österreichische Steuerreformkommission, den Österreichischen Forschungsförderungsfonds, die Österreichische Nationalbank, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Stiftung Volkswagenwerk und die Fritz-Thyssen-Stiftung. Geboren wurde Seidl 1940 in Wien.