© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Ländersache: Niedersachsen
Der Wolf, die Wut und das Wählen
Christian Vollradt

Dolly hatte keine Chance. Das 30 Jahre alte Pony wurde Anfang des Monats auf seiner Koppel im niedersächsischen Burgdorf Opfer eines Wolfs. Darauf jedenfalls deuteten sämtliche Bißspuren am Kadaver hin, teilte ein Sprecher des Umweltministeriums in Hannover unter Verweis auf Experten mit, die das gerissene Tier untersucht hatten. Um sämtliche Unklarheiten auszuschließen, sei noch eine DNA-Analyse vorgenommen worden. 

Mit seinem Schicksal ist Dolly kein Einzelfall, und wahrscheinlich hätte es auch für weniger Aufsehen gesorgt, wenn seine Besitzerin nicht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gewesen wäre. Ihre ganze Familie sei „fürchterlich mitgenommen“ von dem Vorfall, teilte die leidenschaftliche Reiterin mit. Drei weitere Ponys wurden unweit des Anwesens der Kommissionspräsidentin in jüngster Zeit von Wölfen getötet. Manche Pferdebesitzer rüsten nun mit bis zu eineinhalb Meter hohen Weidezäunen auf, andere installieren Überwachungskameras. Besonders ärgerlich: Eigentümer eines getöteten Pferdes bleiben meist auch noch auf den Kosten für die Beseitigung des Kadavers sitzen. Im Land mit dem Sachsenroß im Wappen sorgt das nicht für Sympathien. Zumal sich einzelne Wölfe schon in der Nähe einer (Groß-)Stadt zeigten. 

Noch gravierender ist indes die Lage für Weidetierhalter. Nach jüngsten Wolfrissen im Norden des Landes sind Landwirte und Schäfer „völlig zu Recht wütend und verunsichert“, räumt der zuständige Umweltminister Olaf Lies (SPD) ein: „Die Situation im Landkreis Wittmund und im Landkreis Friesland spitzt sich mehr und mehr zu.“ Daher erarbeite sein Ressort „eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für den Abschuß einzelner regional besonders auffälliger Wölfe“, kündigte der Minister an. Außerdem fordert Lies von der Bundesregierung, die rechtlichen Grundlagen zur Bejagung des Wolfs zu verbessern. In Niedersachsen gebe es mittlerweile mindestens 44 Rudel mit weit über 400 Tieren, die Population wachse rasant. Der Wolf sei damit zwischen Elbe und Ems in seinem Bestand nicht mehr bedroht. Lies appellierte auch an diejenigen, denen es in erster Linie um den Schutz des Raubtiers mit dem grauen Fell geht: „Artenschutz braucht Akzeptanz.“   Das rechtliche Schutzregime sei nicht mehr zeitgemäß, denn es stammt aus einer Zeit, da der Wolf in Deutschland als ausgestorben galt. 

Genausowenig „tatenlos zusehen“ wie der sozialdemokratische Landesminister wollte auch ein Berufsschäfer aus Winsen an der Luhe. Um seine Heidschnucken notfalls gegen den Wolf verteidigen zu können, beantragte er die Erlaubnis zum Erwerb und Führen einer Flinte im Kaliber 12 sowie auf Erteilung einer entsprechenden Schießerlaubnis. Die zuständige Behörde lehnte das Ansinnen ab; das Verwaltungsgericht Lüneburg wies die Klage des Schäfers dagegen zurück. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Solch ein Ruf nach Selbstjustiz sei „genau die Situation, vor der wir immer gewarnt haben“, empört sich der Umweltminister. Auch beim Thema Wolf müsse der Staat handlungsfähig sein. So markig kommt Lies nicht ohne Eigeninteresse daher: Er tritt bei der Landtagswahl in drei Wochen wieder als Kandidat im Wahlkreis Friesland an.