© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Nicht mehr Herr der Lage
Niederlande: Ein Migrantencamp an der Grenze zu Deutschland platzt aus allen Nähten
Hinrich Rohbohm

Nach Deutschland sind es nicht einmal drei Kilometer. Das Asylzentrum in der niederländischen Ortschaft Ter Apel befindet sich in unmittelbarer Grenznähe. Einst als Nato-Militärbasis errichtet, dient es heute Migranten als Unterkunft. Vom Erstantragsteller bis hin zum letztinstanzlich abgelehnten Asylbewerber sind hier Zuwanderer mit unterschiedlichstem Aufenthaltsstatus untergebracht.

Doch seit einigen Wochen hat die Einrichtung ein Problem. Eines, das bereits am Eingang der Unterkunft deutlich ins Auge springt und das sich auch zu einem Problem für Deutschland entwickeln könnte. Hunderte Migranten Kampieren vor dem Anmeldezentrum. Sie hocken vor Zelten auf Isomatten. Rings um sie häuft sich der Müll. Einige liegen schlafend auf dem Rasen vor der Unterkunft, die Jacke als Unterlage, den Rucksack als Kopfkissen nutzend.

Bei der Unterbringung ist keine Lösung in Sicht

Der Grund dafür: Das Lager ist restlos überfüllt, zusätzliche Schlafplätze nicht mehr vorhanden. Das Migrantencamp von Ter Apel wird inzwischen sogar schon als das Moria der Niederlande bezeichnet, in Anspielung auf das einst berüchtigte Lager auf der griechischen Insel Lesbos. Dennoch kommen immer neue Migranten zum Asylzentrum. Einer von ihnen ist Aki. „Ich warte jetzt seit einem Monat darauf, einen Platz zu bekommen“, erzählt der Schwarzafrikaner der JUNGEN FREIHEIT. Gemeinsam mit einem Migranten aus Nigeria und einem aus Sierra Leone teilt er sich ein Zelt etwas Abseits vom Aufnahmezentrum. Er selbst komme aus Gambia. Auf die Frage, wie alt er sei, zögert er einen Moment zu lange, um es ihm glauben zu können. „Ich werde bald 18“, sagt er schließlich.

Für das Alter wäre er zumindest erstaunlich lange in Europa. Bereits 2016 sei er nach Italien gekommen. Da müßte er dann elf Jahre alt gewesen sein. „Ja, ich kam als kleiner Junge“, bekräftigt er auf Nachfrage. Zusammen mit seinem älteren Bruder sei er durch die Sahara nach Libyen gelangt. „Dort steckten sie uns ins Gefängnis und wir wurden getrennt.“ Schlepper hätten ihn mit anderen später per Schlauchboot auf das Mittelmeer gebracht. Ohne den Bruder, von dem er bis heute nichts mehr gehört habe. Das Schiff einer Hilfsorganisation habe ihn und die anderen Schlauchboot-Insassen kurze Zeit später aufgenommen und nach Italien gefahren. Er habe dort ein Asylverfahren durchlaufen, sagt Aki. Nach der Ablehnung habe er sich 2019 auf den Weg Richtung Niederlande gemacht. Was er während dieser Zeit so gemacht habe, darüber möchte er nicht sprechen. Er streckt der JF seinen Arm entgegen, zeigt ein daran befestigtes gelbes Band. „Das habe ich jetzt seit vier Tagen.“ Zuvor hatte er noch ein graues Band tragen müssen. Das der Neuankömmlinge. Das gelbe Band bedeute, er habe die polizeiliche Befragung und den Fingerabdruck bereits absolviert, ein Teil des Verfahrens, um in der Asylunterkunft aufgenommen zu werden. Jetzt habe er eine Chance auf einen freien Platz und wartet weiter. Tag für Tag in der Hoffnung, bald in der Asylunterkunft wohnen zu können.

Doch das kann dauern. Vor dem Anmeldezentrum vergrößert sich die Menschentraube. Viele wollen in die Unterkunft. Zu viele. Zum einen, weil nach dem Abklingen der Pandemie wieder zunehmend mehr Migranten nach Europa kommen. Nicht nur aus Afrika und dem Nahen Osten, sondern aufgrund des Krieges auch aus der Ukraine. Zum anderen, weil diejenigen, die Asyl erhalten haben und danach normalerweise die Unterkunft verlassen, wiederkommen. Denn der Wohnungsmarkt ist auch in den Niederlanden angespannt, Zimmer sind rar. „Die kommen dann wieder zurück und wollen hier weiter wohnen bleiben“, erklärt ein Helfer, der an einem improvisierten Essensstand vor dem Asylzentrum Brötchen, Äpfel und Mandarinen an die Migranten verteilt.

Bis zu 700 von ihnen harren hier Tag für Tag aus, liegen vor ihren Zelten oder kampieren in der näheren Umgebung. Einige von ihnen sind alkoholisiert, andere von Drogen berauscht. Auch dem neben Aki stehenden Nigerianer merkt man seinen Drogenkonsum an. Immer wieder unterbricht er das Gespräch, wirkt hektisch, fahrig, teilweise desorientiert. Gerade hat er sein Dosenbier geleert. Jetzt hält er einen Joint in der Hand, fragt Aki immer wieder fordernd und ungeduldig nach dessen Feuerzeug. Als der nicht reagiert, greift er ihm schließlich selbst in die Hosentasche, um sich seine Tüte anzuzünden. „Es fehlt an allem. Es gibt zu wenig Toiletten, zu wenig Mülleimer und Krankheiten breiten sich hier auch schon aus. Vor kurzem ist hier schon ein kleines Kind gestorben, schreit er, mit den Händen samt Joint wild in der Luft herumfuchtelnd. Tatsächlich hatten die Behörden vor drei Wochen den Tod eines erst drei Monate alten Babys vermelden müssen.

Der Nigerianer ist kein Einzelfall. Rund um das Gelände sind Migrantengruppen unterwegs, manche von ihnen mit Dosenbier in der Hand. Auch im Zentrum von Ter Apel. Dort zeigen sich die Einwohner genervt. „Das kann so nicht weitergehen. Die laufen hier alkoholisiert durch die Straßen, belästigen die Leute und niemand tut etwas“, beschwert sich im Ort eine Frau auf Nachfrage der JF. Das sei nicht nur ihre Meinung, jeder im Dorf könne das bestätigen, versichert sie. „Meine 15jährige Tochter ist jetzt schon mehrfach von Afrikanern angemacht und betatscht worden. Muß denn erst Schlimmeres passieren, damit unsere Politiker handeln?“, beklagt sich auch ein Familienvater. Andere erzählen von einer Zunahme an Hauseinbrüchen und Auto- und Ladendiebstählen. 

„Wenn ich hier keinen Platz kriege, gehe ich nach Deutschland“

„Viele hier haben eine Menge Probleme. Entweder tragen sie negative Erinnerungen aus ihren Heimatländern mit sich oder sind mit der Situation hier vor Ort unzufrieden oder beides“, meint der Mann aus Sierra Leone, der seinen Namen nicht verraten möchte. „Einige kommen auch im Nachbarort in Stadskanaal unter, etwa 20 Minuten mit dem Bus von hier.“ Dort dienen zwei Großzelte in der Nähe eines Sportplatzes als Schlafplätze für die Migranten, um Entlastung zu schaffen. Von der Öffentlichkeit durch einen Bauzaun rings um das Areal abgeschottet. Ab Oktober sollen weitere Migranten auf einem Kreuzfahrtschiff in Amsterdam unterkommen. Doch auch das sei Behördenangaben zufolge nur eine vorübergehende Lösung.

Verschlägt es angesichts der Situation und der Grenznähe auch Migranten nach Deutschland? Aki, der Nigerianer und der Mann aus Sierra Leone nicken. Auch sie hätten schon mit dem Gedanken gespielt. Aus Gesprächen mit anderen Wartenden wüßten sie, daß sich immer wieder vereinzelt Leute auf Richtung Deutschland machten. In der Hoffnung, dort bessere Bedingungen für sich vorzufinden. „Wenn ich hier keinen Platz bekomme, werde ich auch nach Deutschland gehen“, verrät Aki. Weit wäre der Weg für ihn jedenfalls nicht.

Foto: Zeltlager in Ter Apel: Rings herum häuft sich der Müll. Einige Migranten schlafen auf dem Rasen