© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Per Petition gegen Putin
Ostukraine: Der Rückzug russischer Truppen erhöht Zweifel an deren Durchschlagskraft und der politischen Führung
Jörg Sobolewski

Nach den ersten Tagen der ukrainischen Offensive in der Region Charkiw zeigen sich auf russischer Seite erste Auflösungserscheinungen an der Front. „Aus meiner Kompanie sind von hundert Männern etwa zwanzig gefallen und fünfzig verletzt“, schreibt ein Freiwilliger, seine Truppe aus Söldnern werde als „Sturmtrupp“ genutzt, die Truppen der Separatisten und der regulären russischen Streitkräfte seien lediglich noch „als Flankenschutz“ zu gebrauchen. In russischen Kanälen des Kurznachrichtendienstes Telegram gehen einige schonungslos mit der russischen Führung ins Gericht, die schwere Niederlage in der Region zeige den „motivationslosen Dienst nach Vorschrift der russischen Armee“, die ihre Kräfte überdies überdehnte. Die ukrainische Seite habe „gute Chancen auf Erfolg“, der Verlauf der Offensive zeige, daß ein „bewegliches Herangehen und Motivation ausschlaggebend für den Kriegsverlauf” sein könnten. 

Kommunalpolitiker fordern Wladimir Putin zum Rücktritt auf 

Es ist der ukrainischen Seite innerhalb weniger Stunden gelungen, durch die befestigten russischen Linien zu stoßen und aus einem Stellungskrieg wieder einen Bewegungskrieg zu machen. Mitverantwortlich dafür sollen nach Aussagen von Analysten neben westlichen Waffenlieferungen auch minütlich aktualisierte Satellitendaten und -karten sein. Mit diesem Informationsvorsprung ausgerüstet sind für die ukrainische Artillerie präzise Schläge auf Knotenpunkte der russischen Versorgung hinter der Front möglich geworden. Über die Stärke der in der Region geschlagenen russischen Einheiten besteht jedoch weiter Unklarheit. Während westliche Beobachter vor allem von regulären russischen Truppen, vor allem der 144. motorisierten Schützendivision ausgehen, verweisen prorussische Kanäle mehrheitlich auf Milizeinheiten der Separatisten. Diese hätten weder „Funkkontakt noch Artillerieunterstützung“ gehabt, reguläre Einheiten der russischen Armee habe es hingegen „kaum im Frontbereich“ gegeben. 

Über die territorialen Verluste gibt es hingegen kaum Meinungsverschiedenheiten. Ein Rückzug russischer Kräfte hinter den Fluß Oskil, bei dem mehrere Schützenpanzer verlorengingen, läßt nur wenig Zweifel an der erfolgten Verschiebung der Front. Der Oskil, ein Nebenfluß des Don, bildet nun die neue Grenze zwischen russischem und ukrainisch kontrolliertem Territorium. Ein schwerer Rückschlag für das ausgegebene Kriegsziel des Kreml, das gesamte Territorium der Oblaste Lugansk und Donezk einzunehmen und zu sichern. Auch weiter im Süden gelang der ukrainischen Seite ein Achtungserfolg. Seit der Rückeroberung der Ortschaft Bilohorivka steht die Oblast Lugansk nicht mehr vollständig unter russischer Kontrolle. 

Tatsächlich könnten sich die Erfolge der Ukrainer im Norden auch weiter südlich künftig noch stärker bemerkbar machen. Denn starke russische Kräfte sind unverändert im Raum Dontzk und in der Nähe der Ortschaft Bachmut in offensiven Operationen gebunden. Eine gefährliche Situation für die dort eingesetzten Soldaten, deren Flanken nun durch überraschend starke ukrainische Einheiten gefährdet sind. Sollte der ukrainischen Seite erneut ein Durchbruch im Norden gelingen, könnten große russische Truppenteile eingekesselt und vernichtet werden. 

Dennoch gilt ein baldiges Ende des Krieges als unwahrscheinlich. Immer noch verfügt die russische Seite über große peronelle Reserven und vermutlich auch an Material, die etwa für den Fall einer General- oder Teilmobilmachung herangezogen werden könnten. Dessen ungeachtet stellt der ukrainische Vormarsch die Strategen des Kremls vor ein Dilemma. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Handlungsspielraum scheint die Regierung von Wolodymyr Selenskyj zurückzugewinnen. Konnte der Kreml den Rückzug nach der verlorenen Schlacht um Kiew im Frühjahr noch durch „Umgruppierungen“ und eine Anpassung der eingeschlagenen Strategie erklären, dürfte die jüngste Niederlage in der Moskauer Kommunikationsabteilung schon für deutlich größeres Stirnrunzeln sorgen. Vielleicht hat auch deshalb Dmitri Medwedew, der Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, zuletzt seine Tonart gegenüber Kiew verschärft. Auf die Ankündigung von Präsident Selenskyi, er habe „momentan keine Grundlage“ für Verhandlungen, reagierte Medwedew aufgebracht. Kiew werde bald zur „totalen Kapitulation“ aufgefordert, die bisherigen Gesprächsangebote seien lediglich „Kinderkram“ gewesen. 

In Anbetracht der Situation haben 19 Kommunalabgeordnete aus Moskau und St. Petersburg Präsident Wladimir Putin zum Rücktritt aufgefordert. „Präsident Putins Handlungen sind schädlich für die Zukunft Rußlands und seiner Bürger“, heißt es in der Petition, die von Ksenia Torstrem, einer Abgeordneten des St. Petersburger Bezirks Semjonowski, auf Twitter geteilt wurde.

Foto: Eine Einheit der ukrainischen Streitkräfte, die einen Ort in der Region Charkiw zurückerobert hat: Der ukrainische Vormarsch stellt die Strategen des Kremls vor ein Dilemma