© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Die panische Angst der EZB vor einer „Stabilisierungsrezession“
Keine Entwarnung
Thorsten Polleit

Der EZB-Rat hat den Leitzins am 8. September um 0,75 Prozentpunkte angehoben. Mit diesem „großen“ Zinsschritt liegt der Hauptrefinanzierungszins nun bei 1,25 Prozent. Das ist immer noch viel zu niedrig, wenn man bedenkt, daß im August 2022 die Güterpreisinflation im Euroraum bei 9,1 Prozent lag. Der Realzins – also Nominalzins minus Inflation – liegt folglich bei fast minus acht Prozent – eine Katastrophe für alle Sparer und Geldhalter. Leider gibt es auch künftig keine Entwarnung.

Der preistreibende Geldmengenüberhang im Euroraum liegt bei schätzungsweise 14 Prozent. In eben dieser Größenordnung dürfte auch die Güterpreisinflation künftig noch zulegen – zusätzlich zur Geldmengenerhöhung, die noch erfolgen wird. Doch warum endet die Inflationspolitik nicht? Vermutlich ist die EZB bemüht, einen „Trade-off“ zu spielen: Auf die Hochinflation nicht mit zu raschen Zinserhöhungen reagieren, damit die Euro-Konjunktur nicht zu stark abkippt; die Zinsen etwas anheben, aber nicht so stark, daß die marode Finanzlage vieler Staaten eskaliert. Politisch gesehen verständlich, doch dies bringt die Gefahr, daß die Hochinflation hartnäckig wird – weil die Marktakteure dann erkennen, daß die EZB ihrem Inflationsziel nicht uneingeschränkt Vorrang einräumt, und entsprechend steigen ihre Inflationserwartungen. Die EZB-Räte hoffen wohl, die Hochinflation in den Griff zu bekommen, ohne dafür die gefürchtete „Stabilisierungsrezession“ herbeiführen zu müssen: einen starken Rückgang der Wirtschaftsleistung, durch den die Erwartung steigender Inflation gebrochen und das Vertrauen der Marktakteure in künftig niedrige Inflation wiederhergestellt wird.

Das wäre volkswirtschaftlich ein schmerzvoller Weg, auf dem Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit unvermeidlich sind. Doch mit Hochinflation ist nicht zu spaßen. Je länger sie andauert, desto größer werden die Schäden, die sie verursacht, und desto schwieriger und teurer wird es, sie wieder loszuwerden. Man darf Zweifel haben, daß es ausreichen wird, die Hochinflation im Euroraum zu beenden, wenn der EZB-Rat ihr mit seiner Zinspolitik nur hinterherläuft. Die Chancen, daß man letztlich um eine Stabilisierungsrezession herumkommt, sind recht gering. Die wirkliche Nagelprobe für den Euro steht erst noch aus.