© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Grüne Sofortmaßnahmen
Energiekrise II: Zwei deutsche Kernkraftwerke sollen zur Vorbereitung auf den nächsten Winter lediglich in der Kapazitätsreserve bleiben
Marc Schmidt

Seit Ausbruch des Ukrainekriegs hat die EU sieben Sanktionspakete beschlossen – die Auswirkungen sind nicht nur in Rußland, sondern vor allem in Europa zu spüren. 197 Tage hat es hingegen gedauert, bis sich die 27 EU-Energieminister am 9. September in Brüssel trafen, um endlich einen „Gedankenaustausch“ über zwei für die eigenen Völker existentielle Fragen zu führen: „Mögliche Sofortmaßnahmen zur Abfederung der hohen Energiepreise“ und die „Vorbereitung auf den nächsten Winter“. Doch außer einem Formelkompromiß zu weitreichenden Eingriffen in den Energiemarkt wurde nichts Konkretes beschlossen.

Immerhin hat sich Brüssel bislang in der Regel nicht quergestellt, wenn einzelne Regierungen ihre Bürger und die heimische Wirtschaft auf oft phantasievolle Weise entlasteten. Bereits vor der Ausarbeitung der Beschlußvorlagen durch die EU-Kommission gibt es Zweifel an der Realisierbarkeit der Vorhaben. Die Sanktionierung von russischem Gas und Öl durch einen Preisdeckel ist vorerst vom Tisch – nicht nur Ungarn, sondern auch Österreich und die Slowakei stellten sich quer. Die oft hohen Gewinne bei der Energieerzeugung mittels Wind, Solar, Biogas, Kohle, Wasser und Kernenergie sollen hingegen künftig irgendwie „abgeschöpft“ werden. Die entstehen bei der Strompreisbildung an den Energiebörsen nach dem Merit-Order-Prinzip: Als Strompreis werden die Grenzkosten der letzten zugeschalteten Kraftwerkseinheit herangezogen. Meist sind das teure Gas- und Ölanlagen.

Wenn kein Strom erzeugt wird, muß der Steuerzahler einspringen

Doch die sind zum Netzausgleich unverzichtbar. Denn allein Deutschland braucht je nach Wochentag und Uhrzeit ständig zwischen 50 und 77 Gigawatt (GW) Stromleistung. Solar konnte 2021 im Idealfall 59,3 GW und Wind 63,8 GW liefern – im Schnitt sind es nicht mal ein Viertel, und bei Dunkelflauten sind es praktisch null GW. Ohne die verteufelten „fossilen“ Energieträger wäre ein Blackout im – nach den USA, China und Japan – viertstärksten Industrieland der Welt unvermeidlich. Bis zur Beschleunigung der deutschen „Energiewende“ unter Angela Merkel und der Einführung des CO2-Zertifikatehandels in der EU gab es in Deutschland ausreichend Kraftwerkskapazitäten, die jahres- und tageszeitunabhängig Strom lieferten.

Doch seit 2011 wurden laut Bundesnetzagentur etwa 180 Kraftwerke endgültig stillgelegt. Darunter waren nicht nur Altanlagen aus den 1960er Jahren und 14 AKWs, sondern sogar Kohle- und Gaskraftwerke, die noch keine 20 Jahre am Netz waren. Die fehlen jetzt. Und die Entscheidung von Wirtschaftsminister Robert Habeck, die letzten drei deutschen AWKs ab Jahresende – trotz EU-Energiekrise und wie 2011 von Schwarz-Gelb im Atomausstiegsgesetz beschlossen – doch nicht weiter laufen zu lassen, verschärft die EU-Stromnotlage zusätzlich: Das 1988 ans Netz gegangene AKW Emsland in Niedersachsen (1,4 GW sichere Leistung) wird Ende Dezember abgeschaltet. Das gleichalte AKW Isar 2 in Niederbayern (1,48 GW) und das ein Jahr jüngere AKW Neckarwestheim in Nordwürttemberg (1,4 GW) sollen immerhin als „Einsatzreserve“ bis Mitte 2023 erhalten bleiben.

Das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) kennt vier Reservearten: Netzreserve (im Mai 7,3 GW), Kapazitätsreserve (1,3 GW), Sicherheitsbereitschaft (1,9 GW) sowie eine Netzstabilitätsreserve. Die Pläne des grünen Wirtschaftsministeriums würden zwei AKW in die Kapazitätsreserve überführen – allerdings ohne diese wirklich nutzen zu wollen. Dieser Ansatz erhöht auf Grund der Befristung der Laufzeitverlängerung und des Streckbetriebs der Brennelemente die Betreiberkosten stark, doch Einnahmen aus Stromproduktion gibt es voraussichtlich nicht. Im Ergebnis würden die Kosten direkt beim Steuerzahler landen, da die Strompreise nicht zusätzlich erhöht werden sollen.

Isar 2 und Neckarwestheim haben für Betrieb und Kühlung einen Eigenverbrauch von 250 Megawattstunden (MWh). Ohne Produktion müßten diese Kosten über die Börse EEX gedeckt werden, was aktuell etwa 1.000 Euro pro MWh bedeutet. Rechnet man 120 Tage für die geplante Zeit vom Jahreswechsel bis Ende April ergeben sich 60 Millionen Euro reine Stromkosten. Hinzu kommen die Ersatzforderungen für die Änderung der Kontrakte für die ab Januar beauftragten hochspezialisierten AKW-Abbaufirmen und Kosten für die kurzfristige Verlängerung der Arbeitsverträge der jeweils 700 Mitarbeiter pro Kraftwerk. All das könnte sich auf 100 Millionen Euro summieren. Dabei würden die AKW auf Grund der im „Streckbetrieb“ verschlechterten Flexibilität nur mit einer Woche Vorlauf die Grundlast unterstützen können. Zur kurzfristigen Blackout-Vermeidung dürften daher nach im lommenden Winter zunächst eher die etwa 13 GW Gas-, Öl- und Kohlekraft anspringen.


 www.bundesnetzagentur.de