© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Wissenschaftsfreiheit nach Bonner Gutsherrenart
Was Wahrheit ist, bestimme ich
(dg)

Die Wissenschaftsfreiheit ist ein spezifischer deutscher Beitrag zur transnationalen Ausformung von Grundrechtskatalogen. Zu den ursprünglichen Menschenrechten des 18. Jahrhunderts, darauf macht der Bonner Staats- und Verwaltungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz aufmerksam (Universitas, 6/2022), gehörte sie nicht. In klassischen Grundrechtstexten wie der „Bill of Rights“ (1789/91) und der „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ (1789) sucht man sie vergebens. Allein die Grundrechtscharta der EU (2009) folgt dem deutschen, erstmals in der Verfassung der Paulskirche (1848) verankerten Modell eigenständiger Wissenschaftsfreiheit, die auch in Artikel 5 des Grundgesetzes unter besonderem Schutz steht: „Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Wissenschaftliche Wahrheiten seien daher hierzulande keine Gegenstände der Gesetzgebung. Ihre Richtigkeit hänge nicht von politischer Macht ab. Was als wissenschaftlich wahr gelten müsse, unterliege strenger Rationalitätskontrolle der scientific community. Wer erwartet, Gärditz werde von dieser Klarstellung zur Kritik der Cancel Culture an deutschen Hochschulen übergehen, verkennt das atemberaubende Ausmaß der Politisierung, dem die Staatsrechtslehre und die Karlsruher Verfassungsjustiz sich mittlerweile unterworfen haben. Für Gärditz sitzen die Feinde der Wissenschaft daher nicht in der für ihn zu Unrecht „diffamierten“ Gender-, Migrations- und Rechtsextremismus-„Forschung“, sondern in den Reihen von „Populisten“ wie Thilo Sarrazin, dessen „rassistische Bestseller“ keine wissenschaftliche Wahrheiten böten, sondern „irrlichternde Thesen“, die an Universitäten nichts zu suchen hätten. 


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