© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

„Mann? Frau? Roboter?“
Kino I: Die Dokumentation „Moonage Daydream“ huldigt der Pop-Ikone David Bowie
Dietmar Mehrens

Klar, er war schon was Besonderes, dieser David Bowie (1947–2016), den viele als schwer kategorisierbaren Sänger kennen, der aber auch Maler, Videokünstler und Schauspieler war – etwas Besonderes eben. Und deswegen wollte Brett Morgen (Drehbuch, Regie und Produktion) auch einen besonderen Film über ihn machen: eine avantgardistische Collage aus Bildern und Musik, Trick- und Archivaufnahmen. In Interviewschnipseln kommt Bowie häufig selbst zu Wort. Auf einen Sprecher jedoch, der dem Zuschauer hilft, die Aufnahmen einzuordnen, verzichtet der Emmy-Preisträger und läßt denjenigen, der kein ausgewiesener Bowie-Anhänger ist, damit ziemlich allein. Wie etwa soll er die zahllosen Ausschnitte aus Filmen deuten, in denen Morgens Protagonist gar nicht mitgewirkt hat, aus Klassikern wie „Die Reise zum Mond“ (1902), „Nosferatu“ (1922) oder „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968)? 

Als die Grundlagen für den heutigen Trans-Kult gelegt wurden

„Moonage Daydream“ ist ein Chaos, das sich nur grob an der Chronologie von Bowies künstlerischem Werdegang orientiert. Aber das Chaos, könnte man die Botschaft des Films zusammenfassen, war für den Künstler Bowie auch eine Grundvoraussetzung für Kreativität. Mit einem Zitat des Musikers aus dem Jahr 2002 über Nietzsches „Gott ist tot“ und die Folgen für die moderne Musik beginnt der Film. Die neuen Götter, wird die Musiklegende in einem Interview, das später im Film zu hören ist, sagen, das waren Popstars wie Mick Jagger, Bob Dylan und er selbst. Oder waren sie „falsche Propheten“, wie er selbstironisch zu bedenken gibt? Glaubte er selbst an Gott? „An Energie“, antwortete Bowie auf die Frage. Seine Kunst beschreibt er so: „Alles ist Müll. Und jeder Müll ist wundervoll.“

Dieses Alles-im-Ungefähren-Lassen und Mit-allem-Kokettieren war, zumindest für den frühen Bowie, typisch. Sich selbst sah er, wie eine Interviewerin aus dem gebürtigen Londoner herauskitzelte, als Leinwand, auf der alle möglichen Gemälde entstehen können.

Und damit Vorhang auf für den Künstler Bowie, von dem Morgen viele Bilder zeigt, die noch nie einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden. Das Archiv des David Bowie Estate, zu dem Morgen Zugang bekam, verwahrt seltene und nie zuvor gesehene Zeichnungen, Aufnahmen, Filme und Tagebücher. Vier Jahre verbrachte der Regisseur mit der Auswertung des Materials, weitere 18 Monate mit der Tongestaltung und den von Stefan Nadelman angefertigten Animationen, die den Zuschauer in einen interplanetarischen Kosmos entführen.

Brett Morgen, laut Wall Street Journal „der führende Revolutionär des amerikanischen Dokumentarfilms“, hat seine Ausschnitte so gewählt, daß ein an die gegenwärtige Postmoderne mit ihrer Lust an der Verwirrung der Identitäten voll anschlußfähiger Film dabei herausgekommen ist.

Breiten Raum nimmt in seiner Hommage Bowies androgyne Phase Anfang der Siebziger ein. Mit der Kunstfigur „Ziggy Stardust“ inszenierte die Rockpop-Ikone sich als Transvestit: lange rote Haare, blau geschminkte Augenränder und feminine Ohrringe. „Was ist er? Mann? Frau? Roboter?“ Mit dieser Frage kündigte in den Siebzigern ein Moderator den verschroben wirkenden, privat aber sehr höflich auftretenden Musiker an. Der gegenwärtige Kult um Transsexualität und Transhumanismus, dessen jähe Dominanz vielen, die unter gesitteten Verhältnissen aufgewachsen sind, immer noch Rätsel aufgibt, ist gleichsam in seinem Keimstadium zu sehen: Ziggy Stardust erinnert das Kinopublikum des Regenbogen-Zeitalters an die Anfänge der Bewegung vor fünfzig Jahren, als in urbanen Subkulturen die Grundlagen für den heutigen Trans-Kult gelegt und der Glaube an Gott durch den an eine abstrakte kosmische Energie ersetzt wurde. Was damals schrägen Vögeln vorbehalten und in der Pop-Szene als Provokation ausprobiert wurde, ist heute Regierungspolitik. 

So ist „Moonage Daydream“ bei aller avantgardistischen Verfremdung auch ein Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart, der Historisches mit Gegenwärtigem verbindet. Allerdings ist der Film viel zu anstrengend, um ein großes Publikum zu solchen Erkenntnissen leiten zu können.

Kinostart ist am 15. September 2022.