© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Anstoß für einen agonalen Konservatismus
Über den Kampf ins Spiel
Boris Preckwitz

Der Begriff des Politischen unterscheide zwischen Freund und Feind – diese Behauptung Carl Schmitts hat so sehr Zustimmung gefunden, wie sie in Frage gestellt werden kann. Gewiß, in einer Demokratie finden Parteien ihren Daseins­zweck darin, sich die Macht streitig zu machen. Tritt ein neuer Herausforderer in den politischen Wettbewerb, setzen die Etablierten alles daran, ihn vom Feld zu schlagen. Derzeit wird eine in Blau auflaufende Partei von ihren Gegnern in eine Grauzone gedrängt, in der übliche Rechte nicht wirksam werden sollen. Es beginnt mit dem Vorenthalten von Ausschußämtern und Fraktionstiteln, geht über die Nichtbefassung von Anträgen, ganz zu schweigen von Spähtechniken gewisser Schlapphüte. Wer zur parlamentarischen Jagd bläst, den jagt man erst mal ins Bockshorn. Aber im Ernst: Es sind Taktiken, die der betroffenen Partei den Handlungsraum nehmen sollen, sich in praktischer Politik für die Bürger zu beweisen.

Solche Winkelzüge können als Angriff auf Oppositionsarbeit gesehen werden, auch als Ächtung des Wählerwillens, sogar als politische Feindseligkeit. Dennoch stellen sie nicht jene Entrechtung dar, die Schmitt als „Hors-la-loi-Setzung“ im Sinne einer Verfemung verstand. Das Markieren von Feinden, sei es im Außenkonflikt oder im Inneren eines Staates, versteht sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und der schwelenden Bürgerkriegsglut der Weimarer Republik. Aus deren Hostilität behält die Schmittsche These den Nachteil, einem reinen Antagonismus verhaftet zu bleiben. Das Freund-Feind-Schema bezeichnet weniger das Wesen des Politischen als sein Unwesen. Der bessere Sinn des Politischen ist das Wohlergehen einer Gesellschaft oder Staatenwelt als Ganzes, bestenfalls im Aushandeln ihrer Konflikte.

Auf Denker der Konservativen Revolution, wie auch auf Ideen der französischen Nouvelle Droite bezieht sich gängig die deutsche Neue Rechte. Zudem verwendet sie neomarxistische Konzepte, wie etwa Antonio Gramscis „kulturelle Hegemonie“ oder Hans-Jürgen Urbans „Mosaik“ von linkssolidarischen Aktivisten. Eigene Begriffe der Bewegungsrechten bleiben eher schemenhaft – etwa die „Reconquista“ oder der (ethno-)„solidarische Patriotismus“. Sie ergeben keine Handhabung, wie und welche politische Arbeit in den Institutionen unserer vielgliedrigen Gesellschaft, in ihren Systemen und Gremien praktisch zu vollziehen wäre. Hingegen bildet gerade die institutionelle Durchdringung der Gesellschaft seit je die Hauptangriffslinie der Linken. Sie war zweifach erfolgreich – erstens über die parlamentarische Arbeit bestimmend über Gesetzgebung und Verwaltung, zweitens über NGOs einwirkend auf Gerichte und Zivilgesellschaft. Dabei besaß doch der Konservatismus einst bessere Karten, denkt man etwa an Arnold Gehlens Soziologie der Institutionen.

Allerdings gibt es einen Denkansatz, der dem Konservatismus heute eine interessante Möglichkeit eröffnet: die agonale Demokratietheorie. Diese begreift den Streit von Parteien im Kampf um Macht als zentral und entwickelt daraus Taktiken und Praktiken. Dieser von der belgischen Politologin Chantal Mouffe wortführend entwickelte Ansatz ist bislang vom rechten Lager kaum aufgegriffen worden, obwohl Mouffe und insbesondere ihre Mitstreiter im angelsächsischen Raum – Bonnie Honig, James Tully, William Connolly – linksidentitäre Strategien über volksstämmige Souveränität und Verfassungsarbeit entwickelt haben, die in jeder politischen Zielrichtung eingesetzt werden können.

Diese Debatte maßgeblich zu prägen wäre für den Konservatismus eine vielversprechende geistige Herausforderung. Außerdem hat der Agonismus-Ansatz prägende Vordenker in der deutschen Geistesgeschichte, von Hannah Arendt, zurück zu Carl Schmitt und Friedrich Nietzsche bis zum Rechtshegelianismus.

Es war die deutsche Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die den antiken Begriff des Wettstreits – Agon – für die politische Diskussion aufbereitete. Im hellenischen Stadtstaat galt der Wetteifer als wesensbildend. Überall und immer Leistungsschau: in der Volksversammlung wie im Theaterwettbewerb, bei Olympischen Spielen wie in der Phalanx, bei Handelsverträgen wie bei der Prachtarchitektur, für den Gerichtsprozeß wie für die Sophisterei. Das sokratische Streitgespräch fand seine Fortsetzung in der Dialektik Hegels. Als Hegel anläßlich einer Teegesellschaft in Weimar vom Gastgeber Goethe gefragt wurde, was es mit Dialektik auf sich habe, erklärte der Philosoph, es sei der methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohne und dessen Begabung sich in der Unterscheidung des Wahren vom Falschen erweise. „Wenn nur“, erwiderte Goethe gleich sehr dialektisch, „solche geistigen Künste und Gewandtheiten nicht häufig gemißbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!“

Bekanntermaßen wurde Hegels Dialektik durch Karl Marx wieder zu einem grobschlächtigen Antagonismus rückgeführt, zum Klassenkampf und zum Bürgerkrieg der Pariser Commune. Im Schicksalsjahr 1871, als die jahrhundertelange Angriffspolitik Frankreichs auf Reichsdeutschland in einen Krieg mündete, der zum Ende des französischen und zur Erneuerung des deutschen Kaiserreichs führte, erforschten zwei Professoren in Basel die Agonalität der Hellenen: Jacob Burckhardt in seinen Vorlesungen zur „Griechischen Kulturgeschichte“ und Friedrich Nietzsche mit dem Aufsatz „Homers Wettkampf“. Nietzsche erkannte sehr wohl die Zerstörungskraft extremistischen Ehrgeizes, die Zwietracht des Bürgerkrieges im „unersättlichen Sichzerfleischen“ zweier Parteien, doch überwog für ihn der Nutzen des Eiferns zur Wohlfahrt des Ganzen.

Ähnlich beschrieb Hannah Arendt in ihrer „Vita activa“ das Sich-an-anderen-Messen als „agonalen Geist“, sogar als den eigentlichen Begriff und Gehalt des Politischen. Er stellt die Verbindung her zwischen dem Volk als verfassungsgebendem Souverän und der Parteiendemokratie.

Die Staatslehren von Schmitt und Arendt bilden so die Wegweiser, von denen Chantal Mouffe zu ihrem Demokratiemodell schreitet: „Während der Antagonismus eine Wir-sie-Beziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist der Agonismus eine Wir-sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt. Sie sind ‘Gegner’, aber keine Feinde. Obwohl sie sich also im Konflikt befinden, erkennen sie sich als derselben politischen Gemeinschaft zugehörig; sie teilen einen gemeinsamen symbolischen Raum, in dem der Konflikt stattfindet. Als Hauptaufgabe der Demokratie könnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen!“

Aufschlußreich ist Mouffes Kritik an Jürgen Habermas, dem sie ein Unverständnis für die Konflikthaftigkeit der Politik attestiert. Inzwischen zeigt sich auch: Sein Konsensmodell diente den 68er-Linken zur Einmischung in die Institutionen, wurde aber prompt aufgekündigt, als sie sich in der Lage sahen, anderen die Teilhabe zu verweigern. Der „herrschaftsfreie Diskurs“ sollte nicht mehr gelten, als mit der AfD ein neuer Mitredner auftrat. Der ehrwürdige Grundsatz, daß in Streitfällen stets auch die andere Seite anzuhören sei – audi alteram partem –, wurde außer Geltung gesetzt mit dem Scheinargument, die Positionen der Rechten seien erst gar nicht diskursfähig. Zur linken Hypokrisie gesellte sich eine unionstypische Bigotterie. „Mit denen wird nicht einmal geredet“, stimmte die CDU dem linken Hahnenschrei bei, obwohl sie damit das eigene konservative Bekenntnis verleugnete.

Wie schlagkräftig dagegen die konservativ-republikanischen Parteien der angelsächsischen Demokratien! In Ländern wie Großbritannien (Take back control), den USA (America First) und Australien (Sovereign Borders) hat ein robuster Konservatismus bewiesen, daß entschiedenen Worten noch deutlichere Taten folgen können. Daß Demokratie nicht Eintracht bedeutet, sondern Auseinandersetzung und ein Normalmaß an gesellschaftlicher Spaltung, damit muß sich die harmoniebetüdelte deutsche Bürgerlichkeit schmerzlich wieder vertraut machen.

Doch auch der Rechtspopulismus wird sich von Illusionen trennen müssen. Ähnlich wie der klassische Liberalismus von einer unsichtbaren Hand des Marktes ausging, glaubt der Radikalpatriotismus an eine Art „unsichtbare Hand des Volkes“, die, käme sie nur an die Regierung, schon für die Befriedung aller gesellschaftlichen Widersprüche sorgen würde. Diese Wagenburg wird den gesellschaftlichen Spannungen nicht standhalten können.

Wie Agonalität in Selbstgefährdung umschlagen kann, zeigen zwei aktuelle Beispiele. Da gibt es jene Streitlust, die sich innerhalb einer Partei gegen sie selbst wendet. Ein gewisser Menschentyp kann wohl nicht ohne Aversionen leben. Viel Feind’, viel Ehr’ … Solche „Feind-Seligen“ suchen sich gern Parteien mit starken Konfliktlinien, wo sie alsbald Fraktionen entzweien und alle erreichbaren Gerichte mit querulantischen Schriftsätzen beschäftigen. Verständlich, daß auch die Gegner einer Partei versuchen, deren Eskalationen zu befeuern. Kann eine Partei durch inneren Streit ihre Leistungskraft nicht mehr wirksam in den Parteienwettbewerb tragen, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß innere Flügelkämpfe antagonistisch zu wüten beginnen. Übersteigertes Feinbilddenken führt zu Entgleisungen, die den Verfassungsschutz auf den Plan rufen.

Der freie Ideenwettbewerb empfiehlt sich als Fair play für den innerparteilichen Zwist. Wer etwa mit fachpolitischen Programmanträgen nicht einverstanden ist, muß sich selbst die Arbeit machen, bessere zur Entscheidung zu stellen und Mehrheiten zu gewinnen. Nicht die Gegensätze zwischen Individualismus und Kollektivismus, zwischen Klassen oder Lagern sind entscheidend, sondern eine „Synergie in Konkurrenz“. Die Annahme, daß das Gesamtwohl der Gesellschaft sich wesentlich ihrem Wetteifer verdankt, erweist sich als für alle bürgerlich-rechten Strömungen in gleichem Maße anschlußfähig: für den liberalen Leistungsanspruch, für den nationalpatriotischen Kulturkampfgeist und für den Konservatismus mit seinem Beharren auf dem Wertgültigen und Gutbefundenen.

Dabei ist das Bessere nicht, wie ein Sprichwort sagt, der Feind des Guten. Das Bessere ist der Freund des Guten! Das Modell eines agonistischen Konservatismus bietet eine geeignete Plattform, auf der das rechte Spektrum des Verfassungsbogens sich vereinen und in Theorie und Praxis den politischen und institutionellen Kampf erfolgreich bestreiten kann.






Boris Preckwitz, Jahrgang 1968, arbeitet im Marketing und in der PR. Er studierte Literaturwissenschaft und Management, hat Essays, Lyrik und Dramen veröffentlicht und wurde mit Autorenpreisen ausgezeichnet. Heute lebt er in Hannover, wo er ein kulturpolitisches Debattenforum vorbereitet, die August W. Rehberg-Gesellschaft.