© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Hirngespinste über einen Wunschlinken
Gegen den Brexit und für den Migrationspakt: Kühne Spekulationen im Anschluß an die politischen Schriften George Orwells
Oliver Busch

Der britische Schriftsteller George Orwell (1903–1950) ist der Autor eines zwanzigbändigen belletristischen, essayistischen und journalistischen Werks. Dieses steht jedoch bis heute ganz im Schatten jener Arbeiten, mit denen er die Sphäre des Weltruhms vorstieß, in der allegorischen Satire „Animal Farm“ („Die Farm der Tiere“, 1945) und dem dystopischen Roman „Nineteen-Eighty-Four“ („1984“, 1949).

Dieser selbst in seiner Heimat weitgehend vergessene Orwell ist für die Anglistin Ria Blaicher (Universität Erlangen-Nürnberg) eine Wiederentdeckung als immer noch aktueller „politischer Schriftsteller“ wert (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5/2022). Um ihre Empfehlung zu untermauern, widmet sie sich den vier Bänden der nie ins Deutsche übersetzten „Collected Essays“ (1968), die für linksliberale Blätter wie Tribune und New Statesman verfaßte Texte des umtriebigen „Vagabunden“ versammeln, der das „Zeitalter der Extreme“ als Militärpolizist in Birma, als Spanienkämpfer auf seiten der Internationalen Brigaden, als BBC-Kommentator während der Luftschlacht um England und als Sonderkorrespondent in den vom Dritten Reich hinterlassenen Trümmern Nachkriegsdeutschlands erlebte.

In der Tag und Stunde geschuldeten ungeheuren Themenvielfalt seiner Pressepublikationen glaubt Blaicher doch vier Schwerpunkte zu erkennen: Orwells „Ankämpfen“ gegen Antisemitismus, Nationalismus und Kommunismus sowie seine nie ganz abgeschlossene Suche nach einem eigenen politischen Standpunkt, den der zeitweilige Sympathisant Stalins im „liberalen, demokratischen Sozialismus“ gefunden zu haben glaubte. In Sachen „Antisemitismus“ muß Blaicher ihren Helden allerdings sogleich gegen Vorwürfe verteidigen, selbst antijüdische Klischees verbreitet zu haben. So präsentierte Orwell in seinem Roman „Down and Out in Paris and London“ (1933) einen jüdischen Pfandleiher als geldgierig, verschlagen und betrügerisch. Kritik daran kontert Blaicher souverän mit dem Hinweis, daß nicht jeder Autor, der in seinen Werken jüdische Figuren negativ zeichne, ein Antisemit sei. Sonst wären Shakespeare (Shylock in „The Merchant of Venice“) oder Dickens (Fagin in „Oliver Twist“) „offensichtliche Judenfeinde”. 

Schwerer zu parieren ist der Befund in einem Standardwerk der Orwell-Forschung („The Cambridge Companion to George Orwell“, 2007): Der Autor habe nie etwas über den Holocaust geschrieben – ein eindeutiges Indiz dafür, daß er ihn nicht „verstanden“ habe. Daraus sei zwar kein Antisemitismus abzuleiten, aber ein politischer Publizist, der nicht auf diesen Genozid reagiere, leide wohl an einem schweren intellektuellen Defizit. Blaicher führt dagegen die große Zahl der Artikel ins Feld, in denen Orwell den kontinentalen, aber auch den britischen Antisemitismus scharf attackiert und meint, weniger überzeugend, „1984“ sei seine „künstlerische Antwort auf die Verheerungen der Nazi-Diktatur“, die den Ausfall einer expliziten Behandlung des Holocaust hinreichend kompensiere. 

Gerade diese distanziert wirkende, gleichwohl unzweifelhaft anti-antisemitische Position habe Orwell die Freiheit verschafft, an einzelnen Juden Kritik zu üben. Ebenso wie sie sein Verhältnis zum Nationalismus bestimmte. Auch hier hütete er sich vor Pauschalisierungen und konzentrierte sich etwa bei seinen eigenen Landsleuten darauf, ihnen ihre nur schlecht verhüllte Abneigung britischen Juden gegenüber oder die Heuchelei vorzuhalten, mit der sie die brutale Ausbeutung ihrer „Kolonialvölker“ als „Mission für Fortschritt und Zivilisation“ vernebelten. Ihre Grenzen erreichte Orwells Differenzierungsvermögen hingegen im Zweiten Weltkrieg. Zwar gab er 1945 zu bedenken, daß keine Kollektivschuld das sowjetisch-polnische Verbrechen der „ethnischen Säuberung“ Ostpreußens rechtfertigen könne. Doch hatte er im  Frühjahr 1944 als „antifaschistischer“  Nationalist Kritiker der Terrorangriffe gegen deutsche Städte zurechtgewiesen: „Kein Mitleid mit den Deutschen“, die mit solchen Bombardements ja angefangen hätten.

Der „demokratische Sozialist“ lehnte Stalins Bolschewismus ab

Energischer habe sich Orwell von solchem Schwarz-Weiß-Denken in seiner Auseinandersetzung mit dem Kommunismus freigehalten. Obwohl der Verfasser von Sozialreportagen die Unterdrückung der Arbeiterklasse, ihre erbärmlichen Wohnverhältnisse, die Vorenthaltung höherer Schulbildung und die englische Klassengesellschaft im Ganzen stets angeprangert habe, löste er sich bald von der unter britischen Intellektuellen gehegten Illusion, Stalins Bolschewismus sei die passende Alternative zum kapitalistischen System. Was ihn als „demokratischen Sozialisten“ nicht hinderte, die „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ zu fordern. 

Worin aber liegt nach dieser historischen Sichtung die von Blaicher versprochene „Tagesrelevanz“ von Orwells verschollenen politischen Schriften? Um das zu begründen, muß die 1943 geborene Anglistin, die ähnlich wie ihre als Lobsängerin des UN-Migrationspaktes berühmt gewordene Fachkollegin Aleida Assmann im Bannkreis westdeutscher Hypermoral erzogen wurde, sich auf waghalsiges Spekulieren verlegen. Orwell, so glaubt sie, wäre sicher ein Gegner des Brexit gewesen. Er hätte gewiß US-Präsident Joe Biden begrüßt, weil er das von Donald Trump zerstörte „menschliche Miteinander“ wiederherstellt. Und nicht etwa den von Blaicher ausgeblendeten Krieg der Demokraten gegen die „Abgehängten“ fortsetzt. Und Orwell wäre natürlich für die grenzenlose Aufnahme von „Flüchtlingen“ eingetreten, weil er – wie die wirklichkeitsfremde Professorin Blaicher – nicht zu unterscheiden gewußt hätte zwischen der heutigen, wirtschaftlich motivierten Masseneinwanderung und der Aufnahme von politisch verfolgten Juden in Großbritannien vor achtzig Jahren.