© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Im System der geistig Freien
Joachim Radkaus Biographie über die revolutionäre Denkerin Malwida von Meysenbug (1816–1903)
Eberhard Straub

Schon der Russe Alexander Herzen, der nach manchen schöpferischen Zerstörungen auf eine schönere Zukunft für Rußland und Europa hoffte, spottete giftig: „Kaum eine Nervenkrankheit ist so hartnäckig wie der Idealismus.“ Er lebte seit dem Dezember 1853 in London mit Malwida von Meysenbug zusammen, die vor allem wegen ihrer „Memoiren einer Idealistin“, die ab 1869 – zuerst auf französisch – erschienen,  weltberühmt und unvergessen blieb. An sie erinnert Joachim Radkau mit seiner Biographie dieser Revolutionärin, Dichterin und Freundin vieler Idealisten von Gottfried Kinkel über Alexander Herzen, Giuseppe Mazzini, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche bis hin zu dem Botschafter und Reichskanzler Bernhard von Bülow und dem Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland. Die großherzige Menschenfischerin bezauberte noch weit mehr Männer und Frauen, immer im besten Sinne begeistert von der Freiheit und Unverwechselbarkeit jedes Einzelnen, des unerschöpflichen und daher stets überraschenden Individuums.

Sie hielt sich an Goethe, der bekannte, daß ihn im Innersten eigentlich nur das Individuelle in seiner schärfsten Bestimmung interessiere. Er wies damit seinen Zeitgenossen und den „höheren Menschen“ im 19. Jahrhundert den Weg, die das Individuum und seine Freiheiten in den Mittelpunkt aller geistigen und politischen Bewegungen rückten. Freilich überhörten sie meist die Warnung Goethes, die Ideale und die gemeine Wirklichkeit streng auseinanderzuhalten, da die meisten Menschen viel mehr Ideales in sich haben, als sie brauchen und verarbeiten können. Ein gutes Beispiel dafür ist der späte Freund Malwidas, der Schriftsteller Romain Rolland. Er schrieb ihr im März 1892: „Ich will ein Mann sein, ich will Idealist, Materialist, Spiritualist, Sensualist, Pantheist, Skeptiker, Christ, Heide sein; und ich will in alldem ich selbst sein!“ Er wollte ein totaler Mensch sein, Lebenstotalität erreichen und verwirrte sich unvermeidlich mit dieser Zerfahrenheit in mannigfache Widersprüche, wie seine Seelenführerin.

Die Idealistin beunruhigte das Zusteuern auf die Katastrophe

Diese verstand ihn vollkommen, denn ihr ging es mit ihren jeweiligen Versuchen, sich seit 1848 in der unübersichtlichen Gegenwart bis zu ihrem Tode 1903 zurechtzufinden, nicht viel anders als dem erheblich jüngeren Sucher und Kulturmenschen. Ihr Idealismus war ein Sammelsurium alles Wahren, Guten und Schönen, in der Absicht, edel zu werden, hilfreich und wahrhaftig, um möglichst viele aus der Selbstentfremdung zu erlösen und ihnen den Übergang in ein Reich der Freiheit und der Liebe zu ermöglichen, in dem sie ganz zu sich selbst finden konnten und ihr Ich über das Du zum Wir eines gemeinsamen Wollens zu steigern. Malwida von Meysenbug, 1816 in Kassel geboren, die Tochter eines geadelten kurhessischen Ministers, wuchs in den feinen Kreisen geselliger Bildung auf.  Dort lernte sie von vornherein, daß der Mensch ein Kompendium mannigfaltigster Anlagen und Bedürfnisse ist, weshalb Vielseitigkeit, Phantasie und Liberalität notwendig sind, um das Ich und die anderen in einem ersprießlichen Zusammenhang zu halten, also an das Nebeneinander, an die Verbindung unterschiedlicher Bestrebungen zu denken, statt deren schroffe Unvereinbarkeit zu betonen.

Malwida schwärmte für Freiheiten und eine Republik der Freien. Sie konnte Tumult, Gewalt, ja Terror als unvermeidlich bei dem revolutionären Umsturz akzeptieren, aber die Haarspaltereien deutscher, von der Theorie besessener, Ideologen verwarf sie als unpraktisch und weltfremd. In der Emigration seit 1851 lernte sie die unerquickliche Verfassung leidenschaftlicher Verfassungsfreunde kennen. Sie begrüßte das Reich von 1871, das Werk Bismarcks, der mit seiner Verfassung umsetzte, was den der beschränkten Wirklichkeit entrückten Professoren in Frankfurt 1848/49 nicht gelingen konnte. Sie trauerte der „gescheiterten Revolution“ nie nach, da mit anderen Mitteln und auf anderen Wegen erreicht werden konnte, wozu die Revolutionäre damals nicht fähig gewesen waren. Sie hatte enthusiastisch auf das Volk gesetzt und mußte alsbald erkennen, Illusionen erlegen zu sein. Die Republik, geleitet von den Besten, setzt geistig Freie voraus, die zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung gelangt waren. Die Mitbestimmung der ahnungslosen oder leidenschaftlichen Massen ermögliche hingegen nur eine hemmungslose Demokratisierung, die den Untergang des Abendlandes beschleunige.

Wie so viele Idealisten war sie davon beunruhigt, daß in Europa alles mit fieberhafter Geschwindigkeit der alles umfassenden Katastrophe entgegeneile. Klassische Bildung und ein ästhetischer Aristokratismus mit innerer Großzügigkeit könne ihn vielleicht aufhalten. Der russische Philosoph Alexander Herzen hielt das für politische Halluzinationen. Richard Wagner erwartete die Götterdämmerung als Voraussetzung eines neuen Menschen und Friedrich Nietzsche die Umwertung sämtlicher Werte, um den Übermenschen hervorzubringen, der alles allzu Menschliche, Kleinliche hinter sich gelassen hatte. Alle drei wollten die notwendigen Untergänge als Übergänge in eine bessere Zukunft verstehen, in der herausragende Einzelne die Gesamtheit führen und vor sich selber beschützen.

Gegen Ende ihres Lebens idealisierte die Freundin der Freiheit während des Burenkrieges zwischen 1899 und 1902 Ohm Krüger zum Heldenpräsidenten und die Buren zum Heldenvolk. Das war eine ihrer letzten Täuschungen. Auch die Emanzipation der Frauen, für die sie leidenschaftlich stritt, galt dem Ziel, diese zur geistigen Freiheit zu bilden, nicht als Quotenfrauen Karriere zu machen, sondern aufgrund von Bildung und praktischer Lebenstüchtigkeit dazu fähig, wie Giuseppe Mazzini mit Goethes Worten riet: „sich vom Halben zu entwöhnen / und im Ganzen, Vollen, Schönen/ resolut zu leben“. Die letzten drei Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte die ruhelos Reisende in Rom, wo sie bei wachsendem Ruhm als Schriftstellerin selber zu einer staunenswerten Antiquität wurde. 

Sie blieb neugierig auf Menschen und deren Unausgeglichenheiten. Ihre Nerven machten ihr immer zu schaffen, und deshalb vermochte sie sich mit wahrer Engelsgeduld in langen Briefen und   Gesprächen auf die Nervositäten und Krisen anderer einzulassen. Sie und ihre Gefährten im weiten Europa, bis tief nach Rußland, gehörten zu den Gestalten, die Goethe „problematische Naturen“ nannte: „die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt“. Die Freude am Leben ließ sich erst in anderen Welten und Zeiten erwarten.

Joachim Radkau: Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin: Eine Frau im 19. Jahrhundert. Carl Hanser Verlag, München 2022, gebunden, 598 Seiten, 38 Euro

Foto: Amalie Malwida von Meysenbug, Foto undatiert: Sie hatte enthusiastisch auf das Volk gesetzt