© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

Der Flaneur
Unfreiwillige Wanderung
Elke Lau

Der Weg ins Zentrum führt am Fluß entlang, an dessen Ufer dicht an dicht Schiffe vertäut sind, manche nagelneu, kürzlich von der Werft zu Wasser gelassen, anderen sieht man die Vernachlässigung an. Kormorane, Möwen und Schwalben überqueren ihr Revier nicht folgenlos.

Heute ist Markttag. Wocheneinkauf ist angesagt. Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfel sind schon verstaut, dann geht es zum Fischstand. Dort werfen sich gerade Händlerin und Kunde Sprüche politischen Inhalts um die Ohren, die Heiterkeitsausbrüche auslösen. 

Dabei fällt dem gehbehinderten Mann das proppevolle Portemonnaie aus der Hand. Wir übernehmen das Einsammeln der Münzen und loben ihn für seinen Humor.

„Den trainiere ich jeden Tag, denn er vergeht mir, wenn ich den Fernseher einschalte oder Zeitung lese.“

Damit sind wir beim Thema. Jeder steuert jetzt den Namen seines Lieblingsfeindes bei, für den er sogar den passenden Spitznamen parat hat. Lachsalven verschaffen uns  Aufmerksamkeit. 

Der Fahrer gibt Stoff, rast an der ersten Haltestelle vorbei und biegt vor der zweiten ab.

Nur der Kahlkopf hinter uns protestiert und knurrt: „Das interessiert doch keinen Menschen.“

Anstelle einer Antwort nehmen wir uns Zeit für die Auswahl der Fischspezialitäten – pure Provokation.

Schwere Taschen animieren, für zwei Stationen bis nach Hause den Bus zu benutzen. Der steht nämlich gerade an der Haltestelle. Kaum hatten wir uns auf zwei Notsitzen niedergelassen, gibt der Fahrer Stoff, rast an der ersten Haltestelle vorbei und biegt vor der zweiten ab. Eine Leuchttafel zeigt die nächsten Haltepunkte an. Verdattert stellen wir fest: Es ist der Schnellbus nach Wolgast. 

Als wir endlich aussteigen dürfen, ist unser Heimanwesen eine Stunde Fußmarsch entfernt. Also zur anderen Straßenseite. Leeres Wartehäuschen, kein Wunder, dieser Bus fährt nur stündlich und ist gerade weg. Ärger stellt sich nicht ein, Schuldzuweisungen entfallen. 

Als wir die Einkäufe endlich zu Hause abstellen können, lachen wir über unsere Dummheit. Wie sagte einst Benjamin Disraeli? „Das Leben ist zu kurz für Nebensächlichkeiten.“