© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Der verschleierte Ansturm
Migrationswelle: Fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit steigen die Asylzahlen wieder dramatisch
Michael Paulwitz

Die Asylzahlen galoppieren wieder. In Bayern hat sich die Zahl der Neuankömmlinge binnen kurzem verfünffacht, Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) sieht bereits wieder eine Situation wie im Krisenjahr 2016 heraufziehen. Bis zum Jahresende könnten 2022 wieder mehr als zweihunderttausend illegale Asyl-Migranten aus außereuropäischen Ländern nach Deutschland strömen – zusätzlich zu den vielen hunderttausend Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine wohlgemerkt.

Seit Merkels Willkommensputsch von 2015 ist nichts gelöst oder besser geworden. Asylforderer aus Syrien, Afghanistan, Irak und der Türkei führen wie in den Jahren zuvor die Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an. 115.402 Erstanträge wurden zwischen Januar und August gestellt, 35 Prozent mehr als im Vorjahr. Nach wie vor bleibt der Bundespolizei nur, die illegalen Einreisen zu protokollieren und zu kanalisieren; von Zurückweisungen in nennenswerter Größenordnung kann keine Rede sein. Deutschlands Grenzen und Sozialsysteme stehen offen wie eh und je.

Lediglich das Fehlen endloser kamerawirksamer Wandererkarawanen ist anders als im Asylchaos-Jahr 2015. Auch das könnte sich bald genug ändern. In der Türkei bereiten sich Zehntausende Syrer darauf vor, in Konvois von Gruppen in Kompaniestärke auf EU-Gebiet vorzudringen. Die Telegram-Gruppe „Karawane des Lichts“ hat binnen einer Woche mehr als 70.000 Wanderwillige virtuell versammelt. 

Sie könnten die Vorhut eines gewaltigen Ansturms sein: 3,7 Millionen Syrer leben noch immer in der Türkei und sind dort zunehmend unbeliebt. Die Hälfte von ihnen will Machthaber Erdoğan bis zur Präsidentenwahl 2023 loswerden. Die wenigsten davon werden in seinem Ansiedlungsprojekt in den besetzten syrischen Kurdengebieten unterkommen; für die Masse dürfte die Weiterreise ins gelobte deutsche Sozialleistungsland die attraktivere Option darstellen.

Der Migrationsdruck auf die EU-Außengrenzen steigt seit längerem drastisch an. 188.200 illegale Grenzübertritte hat Frontex in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 registriert, 75 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Es ist der höchste Wert seit 2016. Die meisten kommen über die Mittelmeer- und Balkanrouten; auf der Westbalkanroute stieg die Zahl der illegalen Einreisen um 141 Prozent. 

Deutschland war und bleibt das Hauptziel für illegale Migration nach Europa. Doch die Aufnahmekapazitäten sind am Limit. Die Auslastung der bayerischen Erstaufnahmezentren liege bereits bei „106 Prozent“, schlägt der Innenminister des Freistaats Joachim Herrmann (CSU) Alarm. Weil sich zwölf von sechzehn Bundesländern wegen Überforderung aus dem länderübergreifenden Erstaufnahmesystem abgemeldet haben, tragen Bayern und Sachsen derzeit die Hauptlast. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis man wieder auf Zeltstädte und Turnhallen zurückgreifen müsse, warnt Herrmanns sächsischer Amtskollege Schuster.

Nicht nur räumlich, auch finanziell sind Deutschlands Möglichkeiten längst am Limit. 2015 traf die Parole „Wir schaffen das“ noch auf ein Land, das sich in der trügerischen Illusion eines Wohlstands wiegen konnte, dessen Substanzverzehr noch weit weniger vorangeschritten war. Etliche bleierne Merkeljahre später, nach zweieinhalb Jahren mutwilligen und desaströsen Corona-Stillstands, unter dem Eindruck einer auf die Spitze getriebenen grün-ideologischen Energiepolitik und eines selbstzerstörerischen Sanktionsregimes, ist auch von dieser Illusion nicht mehr viel übriggeblieben.

In einem Land, dessen Bürger von einer irrlichternden Regierung zum Sparen, Frieren und Überwintern in Wärmestuben aufgefordert werden, muß die ungebremst fortgeführte „Wir haben Platz!“-Mentalität wie Hohn erscheinen, wenn zugleich das Gespenst von Verarmung, Deindustrialisierung und Insolvenz-Kahlschlag die bürgerliche Mittelschicht und den unternehmerischen Mittelstand an den Rand des Ruins drängt.

Unbegreifliche Sorglosigkeit im Umgang mit knappen Ressourcen hat die Ampel-Koalition bereits bei der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge praktiziert. Der Verzicht auf ordentliche Registrierung der Ankommenden und die umgehende pauschale Öffnung des Hartz-IV-Fürsorgesystems für in Deutschland aufgenommene Ukrainer setzt Anreize für Mißbrauch und Mitnahmeeffekte, die die humanitären Absichtserklärungen konterkarieren. 

Merkels Willkommensputsch hat dem Hartz-IV-System bereits neue Kostgänger in Millionenhöhe beschert. Durch die Maßnahmen der Ampel ist die Zahl der Ukrainer im Grundsicherungsbezug von nur 17.000 vor Kriegsbeginn um mehr als eine halbe Million angewachsen. Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme ist trotz günstiger Alters- und Ausbildungsstruktur gering. Der Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg Joachim Walter spricht von einer „starken Anziehungskraft“ in die „soziale Hängematte“. Er wisse von Ukrainern, die seit Jahren in Polen lebten und arbeiteten, nach Kriegsausbruch ihre Familien nachgeholt hätten und jetzt nach Deutschland kämen, weil sie dort „ohne Gegenleistung mehr Geld in die Hand bekommen als in Polen mit Arbeit“. Täglich ausgebuchte Busrouten aus vom Krieg verschonten ukrainischen Städten nach Deutschland und zurück nähren den Verdacht des verbreiteten Sozialhilfetourismus.

Die Bundesregierung denkt nicht daran, gegenzusteuern. Die Ausweitung der Hartz-IV-Leistungen auf weitere Migrantengruppen bei gleichzeitigem Ausbau zum deutlich erhöhten „Bürgergeld“ wird sich als unwiderstehlicher Magnet erweisen. Erleichterte Einbürgerung und vereinfachte Aufenthaltsgewährung schaffen weitere Anreize. 

Trotz der angespannten Lage im eigenen Land stockt die Bundesregierung auch die Beteiligung am EU-Ansiedlungsprogramm für „Schutzbedürftige“ aus der Türkei und die direkte Aufnahme von Afghanen sogar noch auf. Die Asyllobby, der kein Programm je genug ist, trommelt derweil für die weitere Schleifung von Migrationshindernissen und mißbraucht den „Weltkindertag“ am 20. September, um Familiennachzug für jedermann und ohne jede Einschränkung zu fordern. 

Diese bedenkenlose Großzügigkeit ohne Rücksicht auf die Lage der eigenen Bürger kann Deutschland sich schon lange nicht mehr leisten. Nach Dänemark ziehen nun auch die Schweden die Notbremse und entscheiden sich in Wahlen für Kräfte, die mit der Wende zu einer restriktiven Migrationspolitik den Weg in den Abgrund in letzter Minute aufhalten wollen. In Italien steht eine vergleichbare Revolution an der Wahlurne bevor. Noch ist es auch in Deutschland nicht zu spät, die Geisterfahrt zu beenden. Doch mit jedem Zögern steigt die Crashgefahr.