© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Heuchelei der „wertebasierten Außenpolitik“
Mit gespaltener Zunge sprechen
Albrecht Rothacher

Karl-May-Leser kennen die Weisheit der Indianerhäuptlinge: „Der weiße Mann spricht mit gespaltener Zunge.“ So läßt sich auch die angeblich wertebasierte deutsche und EU-Außenpolitik beschreiben, die wohlfeile Demokratie- und Feminismuslektionen für die ganze Welt bereithält. Doch den Europäern gehen langsam die Partner aus. Erdgas findet sich leider nicht in der Schweiz, sondern abgesehen von Sibirien und Amerika, in Ländern wie Katar, Saudi-Arabien oder Aserbaidschan – allesamt nicht gerade Musterdemokratien für die Werteprediger.

Noch im Juli hatte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Baku breit lächelnd ein Absichtsabkommen zu mittelfristigen Gaslieferungen abgeschlossen, politische Moral hin oder her. Nur sechs Wochen später erfolgte der massive Militärschlag der schiitischen Aseris gegen das untergerüstete christliche Armenien, das strategisch isoliert den Fehler gemacht hatte, sich mit Moskau zu verbünden. Die Schwäche nützt Diktator Alijew nun knallhart aus, um eine Landverbindung durch Bergkarabach und seine Exklave Natschischewan zur Türkei zu erobern. Die EU und Deutschland schauen weg, das Auswärtige Amt windet sich. Hätte man rechtzeitig eine rationelle Energie- und Militärpolitik betrieben, auf Atom, Kohle, Gasschiefer und diversifizierte Importe gesetzt, könnte man auch im Südkaukasus geopolitische Interessen machtvoll vertreten und hätte einen aserischen Angriff von vornherein abgeschreckt.