© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Mit Blick auf die Krim
Rückschläge in der Ukraine: Putin hat sich verkalkuliert – aber was folgt daraus?
Thomas Fasbender

Der innerrussische Widerstand gegen Putins Kriegsführung wird entschieden lauter. Dutzende Kommunalpolitiker in verschiedenen Städten fordern offen den Rücktritt des Präsidenten. Einige stehen der demokratischen Opposition nahe, die meisten gehören zur Regierungspartei. Solche Wortmeldungen der niederen Ränge wären nicht möglich ohne das Kopfnicken einflußreicher Personen in Partei und Parlament. Auch die russische Staatsduma besteht nicht (nur) aus Betonköpfen und Befehlsempfängern. Die Geschwindigkeit der ukrainischen Offensive bei Charkiw erinnert an den Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Sommer 1941; das geht an den Politikern nicht spurlos vorüber.

Längst nicht jeder, der Putin kritisiert, will einen raschen Frieden. Viele träumen weiterhin vom Sieg. Um so härter gehen die Falken mit der eigenen Militärführung ins Gericht. Auf anonymen Telegram-Kanälen werden Details kommuniziert, auch von aktiven Soldaten: Korruption und Disziplinlosigkeit im Offizierskorps, ein völlig veralteter, bürokratisch-autoritärer Führungsstil, haarsträubende Mängel bei der Ausrüstung, schlechte Kommunikation und unzureichende Information, Strategie- und Taktikfehler.

Wie in der Sowjetunion besitzt die untere Führungsebene kaum Handlungsfreiheit. Selbst den Flug einer kleinen Aufklärungsdrohne muß ein höherer Offizier erst genehmigen. Bei der Ausstattung reicht es vorne und hinten nicht. Seit Monaten laufen Crowdfunding-Kampagnen im russischsprachigen Internet; umgerechnet Millionen Dollar werden gespendet, um die Truppe mit dem Nötigsten zu versorgen: Helme, Erste-Hilfe-Sets, Ferngläser, Nachtsichtgeräte, feuerfeste Uniformen für Piloten, Walkie-Talkies und dergleichen.

Die ukrainische Armee befand sich 2014 in einem ähnlichen Zustand. Nato-Schulungen brachten sie aber in den zurückliegenden Jahren auf Vordermann. Derweil hat Rußland sich im Mythos der Unbesiegbarkeit gesonnt. Und Kiew verfügt über einen weiteren Vorteil: Die Ukraine hat bereits nach dem russischen Angriff mobilgemacht. Die damals ausgehobenen Soldaten sind heute trainiert und kampferprobt. De facto verfügt Kiew über eine Armee von 700.000 Mann, limitiert allerdings durch den Mangel an Waffen und Ausrüstung. Demgegenüber wird die Kopfzahl der russischen Truppen in der Ukraine auf plus/minus 150.000 geschätzt.

Putins Dilemma: eine Mobilmachung käme in jedem Fall zu spät. Es gibt nicht annähernd genügend Offiziere, um die Massen an Rekruten auszubilden. Ein guter Teil der Ausbilder wurde im Frontgeschehen verheizt. Derzeit gehen russische Rekruten nach einer Woche Ausbildung in den Kampf. Der Kriegsverlauf und die hohen Gefallenenzahlen liefern die Quittung. Wenn der Kreml das mit Hunderttausenden macht, kann er sich auf einen Volksaufstand einstellen. Gerade die Gewißheit der russischen Bevölkerung, daß der Krieg sie im Zweifel nicht betrifft, war seit dem Angriff im Februar eine Säule der Kreml-Strategie. 

Der russische Präsident hat sich klassisch verkalkuliert. Er hat darauf gesetzt, die Front über den Winter zu halten und abzuwarten, bis Inflation und Energiekrise im Westen den Unterstützungswillen für die Ukraine untergraben. Als nächstes werden die Ukrainer (und ihre US-Berater) sich darauf konzentrieren, in diesem Jahr wenigstens das rechte Dnjepr-Ufer und Teile des Donbass zu befreien. Damit stellt sich die Frage nach realistischen Szenarien. 

Daß Rußland den Krieg im kommenden Jahr zu seinen Gunsten dreht, erscheint fast unmöglich. Gleichzeitig wird das Land nicht gewillt sein, einen Siegfrieden der Ukraine (und damit des Westens) zu akzeptieren – zumal ein solcher Friede neben hohen Reparationen auch die Räumung der Krim zum Gegenstand hätte. Das gilt unabhängig vom weiteren Schicksal Wladimir Putins. Ob er selbst sich entsprechend äußert oder ein Nachfolger: jede Bereitschaft, und sei es unter extremem wirtschaftlichem und militärischem Druck, die Halbinsel kampflos den Ukrainern zu überlassen, wäre politischer Suizid. Im besten Fall räumt Rußland die gesamte Ostukraine bei maßvollen Reparationen und der Anerkennung der russischen Zugehörigkeit der Krim. Doch dieser beste Fall wird nicht eintreten, solange eine siegesgewisse Ukraine und der Westen die Rückeroberung der Krim als absolut legitimes Kriegsziel verfolgen.

Wahrscheinlich ist, daß 2023 die Krim in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Angesichts der völlig verfahrenen Situation werden Stimmen laut, die an die Kriegskunst zweier russischer Feldherren der Vergangenheit gemahnen: Michail Kutusow und Josef Stalin. Beide haben, durchaus auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen, den Gegner lange Zeit siegen lassen. Der Gedanke liegt nahe, daß Rußland die ukrainischen Truppen auf das eigene Territorium lockt, vor allem auf die Krim: aus Kiewer und westlicher Sicht ein Teil der Ukraine, aus russischer Sicht so russisch wie Moskau und Smolensk. Schon 2014 hielt nur eine Minderheit der Russen den russischen Anspruch auf den Donbass für legitim – ganz anders im Fall der Halbinsel.

Der Versuch der Ukraine, die Krim mit westlicher Unterstützung militärisch zu erobern, könnte auch zum Eskalationskeim der Auseinandersetzung geraten. Voraussichtlich wird Putin davor zurückschrecken, auf unumstritten ukrainischem Territorium taktische Atomwaffen einzusetzen. Im Fall der annektierten Krim mag das anders sein. Sollte die Ukraine mit (noch zu liefernden) Himars-Langstreckenraketen die Krim oder auch russische Städte angreifen – Woronesch, Rostow am Don, Kursk oder andere –, würde das auch die Stimmung unter der russischen Bevölkerung zugunsten neuer Kriegsanstrengungen drehen.

Wenn der Westen nicht klug genug ist, um Kiew im letzten Moment zu einem Verhandlungsfrieden im beschriebenen Best-Case-Format zu bewegen, sieht Europa im kommenden Jahr einer Schlacht um die Krim entgegen. Um diesen bevorstehenden Krimkrieg führen und gewinnen zu können, kommt der Kreml um eine baldige Mobilmachung nicht herum. Alles andere würde bedeuten, daß er sich allein auf sein taktisches Atomwaffenarsenal verläßt.