© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Mehr weniger wagen
Wahlrechtsreform: Kleiner muß, weiblicher soll der Bundestag werden. Über das Wie ist man dort uneins
Jörg Kürschner

Drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl bahnt sich zwischen Koalition und Opposition eine fundamentale Auseinandersetzung über das Wahlrecht an. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat soeben klargestellt, daß die Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestags trotz des Widerstands der Unionsparteien rasch durchgesetzt werden soll. Sie wünsche sich zwar eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit, doch gehöre zur Ehrlichkeit dazu: „Wenn wir darauf warten, kriegen wir vielleicht wieder keine Wahlrechtsreform“, erklärte die SPD-Politikerin. Die alte Politikerweisheit „Wahlrechtsfragen sind Machtfragen“ hat sie längst verinnerlicht, mag sie auch erst vor knapp einem Jahr zur allgemeinen Überraschung in das hohe Amt gekommen sein. 

Bas’ deutliche Ansage erfolgte bald nachdem die Wahlrechtskommission des Parlaments mit Ampelmehrheit eine weitreichende Veränderung des bisherigen Wahlverfahrens beschlossen hatte. Seit Jahren streiten die Abgeordneten über eine Verkleinerung des höchsten deutschen Parlaments. Gesetzlich vorgesehen sind 598 Sitze, derzeit gehören dem Bundestag 736 Parlamentarier an. Tendenz steigend. Einig sind sich alle Parteien, daß das Parlament verkleinert werden muß. Das böse Wort vom „Bläh-Bundestag“ wollen sie nicht mehr hören.

Damit endet aber schon das Einvernehmen. Kein Wunder, denn es geht um Machtfragen. Der Vorschlag von SPD, Grünen und FDP hält an der Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht fest. So weit, so gut. Doch würde die angestrebte Begrenzung der Sitzzahl auf 598 Abgeordnete die Rangordnung zwischen Listen- und Direktmandaten deutlich verändern. Seit der ersten Wahl des Bundestages vor genau 73 Jahren gilt, daß der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis automatisch die Fahrkarte zunächst nach Bonn, später nach Berlin in der Tasche hatte. Eine Regelung, die unstrittig war, gewannen doch bis in die neunziger Jahre die Direktkandidaten von CDU, CSU und SPD oft mit haushohen Ergebnissen ihre Wahlkreise. Doch das ist lange her. Bei der Wahl im vergangenen Jahr reichten dem Dresdner CDU-Mann Lars Rohwer mickrige 18,6 Prozent, um in den Bundestag zu kommen. Eine Entwicklung, die zu immer mehr Überhangmandaten geführt hat. Diese entstehen, wenn Kandidaten einer Partei mehr Direktmandate gewinnen, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.

Ein Beispiel: Kommen 40 Bewerber einer Partei kraft ihrer Erststimme in das Parlament, erhält die Partei nach dem Zweitstimmenergebnis aber nur 37 Sitze im Parlament, wären dies drei Sitze weniger, als die Partei nach der Erststimme bekommen müßte. Diese drei Bewerber kommen aber trotzdem in das Parlament. Um die anderen Parteien nicht zu benachteiligen, erhalten diese Ausgleichsmandate mit der Folge, daß der Bundestag wächst und wächst und wächst …

„Verfassungsrechtlich überaus problematisch“

Die Ampel-Koalitionäre wollen diesen Trend brechen; zu Lasten der Direktkandidaten. Wenn es weiterhin mehr Wahlkreissieger gibt als proportional nach der Zweitstimme vorgesehen, sollen diese Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen und die Direktmandate mit den niedrigsten Wahlergebnissen nicht zugeteilt werden. Das würde bedeuten, daß der Kandidat Rohwer den Einzug in den Bundestag verpaßt hätte; trotz seines relativ besten Ergebnisses im Wahlkreis. „Zweitstimmendeckung“ heißt das Zauberwort der Ampel. Doch haben deren Unterhändler wohl den Schwachpunkt ihres Vorschlags selbst erkannt. Um Wahlkreise ohne Direktkandidaten zu vermeiden, sollen Wähler eine Ersatzstimme haben, die sie an Bewerber anderer Parteien vergeben könnten. So würde das Direktmandat erst in einem zweiten Schritt zugeteilt. Ein anderes Vorgehen wäre, daß automatisch der Zweitplazierte zum Zug käme.

Darüber wurde in der Kommission zwischen den jeweils 13 Abgeordneten und den von ihnen benannten Sachverständigen heftig gestritten. Die Union lehnt die Ampel-Vorschläge rundherum ab, droht indirekt mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. „Die Nichtzuteilung von Wahlkreismandaten an Kandidaten, die die meisten Stimmen in ihrem Wahlkreis errungen haben, ist verfassungsrechtlich überaus problematisch. Insbesondere eine Zuteilung von Wahlkreismandaten an Kandidaten mit einer im Vergleich zu demjenigen Kandidaten, der die meisten Stimmen gewonnen habe, geringerer Stimmenzahl verstoße gegen das demokratische Mehrheitsprinzip“, heißt es in dem Sondervotum von CDU und CSU. Doch ist deren Ablehnung nicht nur rechtlich begründet. Würde der Ampel-Vorschlag Gesetz – es reicht die einfache Mehrheit –, müßte die CSU die Wahl 2025 fürchten. Ausdrücklich wird in dem Kommissionsbericht darauf hingewiesen, daß die bayerische Regionalpartei 2021 „fast alle Direktmandate errungen hat, … ihr Zweitstimmenanteil … jedoch sehr weit unter die 50 Prozent, die für eine Abdeckung aller Direktmandate in einem Land erforderlich wären, gesunken ist“. Im Ergebnis wurden der CSU 11 Überhang-, den anderen Parteien 16 Ausgleichsmandate gutgeschrieben.

Die Koalition stößt erstaunlicherweise nicht auf eine geschlossene Ablehnungsfront der Opposition, wobei sich die Linke inhaltlich kaum einbringt. Die AfD beansprucht gewissermaßen das Erstgeburtsrecht des Reformvorschlags (siehe Interview). Der Unterschied bestehe im wesentlichen darin, ob nicht zugelassene Direktmandate zu einer kleinen Zahl von Wahlkreisen führe, in denen kein Abgeordneter gewählt sein werde. Diese Vakanzlösung sei der wenig transparenten Regelung mittels einer Ersatzstimme vorzuziehen, argumentiert ihr Obmann Albrecht Glaser. In den weiteren Sitzungen soll die Kommission außerdem darüber beraten, wie „mit verfassungskonformen Vorschlägen“ der Frauenanteil im Bundestag erhöht werden kann. Spätestens Mitte kommenden Jahres will die Koalition ihren Gesetzentwurf für ein neues Wahlrecht im Bundestag zur Abstimmung stellen.

Foto: Das Plenum von oben betrachtet: Ausgleichsmandate lassen das Parlament wachsen und wachsen