© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Und morgen in Donezk?
Ukraine-Krieg: Die Lage hat sich zugunsten von Kiew gewendet. Doch bleibt das so?
Marc Zöllner

Beängstigend intensiviert hatte sich zuletzt das Säbelrasseln zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika: Angefangen vergangene Woche Donnerstag, als die russische Außenamtssprecherin warnte, eine Belieferung Kiews durch Washington mit Langstreckenraketen würde „eine rote Linie überschreiten“ und die USA zur „unmittelbaren Kriegspartei“ machen, worauf Moskau „entsprechend reagieren“ wolle. Nur einen Tag später drohte US-Präsident Joe Biden seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin, ein Einsatz chemischer oder nuklearer Waffen in der Ukraine würde von den USA „folgerichtig“ beantwortet werden. Und drei Tage darauf, diese Woche Montag, mahnte Putins Sprecher: Die Krim sei „integraler Bestandteil Rußlands“, und jeglicher Angriff darauf mit US-Langstreckenraketen würde „eine angemessene Reaktion zur Folge haben“.

Im erbitterten Wortgefecht spiegelt sich wider, was Konfliktbeobachter schon länger erwarteten. Der Krieg ist in seine nächste heiße Phase getreten. Die Schlacht um Charkiw, die ab dem 10. September in der Befreiung mehrerer tausend Quadratkilometer mündete, wird in die Annalen der Ukraine eingehen. Die Rückschläge Rußlands drängen nicht zuletzt den Kreml zum konsequenten Umdenken. Doch der Krieg ist längst nicht entschieden, und eine Eskalation dürften beide Seiten begründet fürchten.

87 Prozent der Ukrainer stützen Selenskyjs Kriegskurs

Fakt ist: Rußlands Potential an freiwilligen Streitkräften erschöpft sich. Doch der Kreml benötigt einen hinreichenden Anlaß, um eine Generalmobilmachung auch der russischen Öffentlichkeit nicht als Eingeständnis einer Teilniederlage verkaufen zu müssen. Prioritär als solcher gehandelt wird derzeit von Moskau selbst die Lieferung von US-Mittelstreckenraketen an die Ukraine. Aber auch die Überschreitung der russischen Grenze durch ukrainische Soldaten – und somit die Gefährdung des russischen Staatsgebiets – wird als potentielle Rechtfertigung gehandelt. Und ebenso jene Grenzen der beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Letztere sind jedoch, ebenso wie die Halbinsel Krim, zur Rückeroberung erklärte Kriegsziele Kiews.

Jüngste Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) ergaben eine bedeutende Mehrheit unter den Ukrainern für die Kriegsziele ihrer Regierung. Rund 87 Prozent erklärten im September, im Falle von Friedensverhandlungen Rußland keine Gebietszugeständnisse gewähren zu wollen. Noch im Mai waren in gleicher Meinungserhebung nur 82 Prozent dieser Ansicht. Lediglich acht Prozent vertreten derzeit die Meinung, Kiew solle „einige Gebiete aufgeben“, um „Frieden zu erreichen und die Unabhängigkeit zu bewahren“. Mit Umfragen wie dieser im Rücken, sieht sich besonders der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem Handeln bestärkt.

Wie realistisch eine Rückeroberung speziell der Krim jedoch überhaupt ist, darüber streiten die Experten. „Innerhalb des nächsten Jahres“, zeigt sich US-Generalleutnant a.D. Ben Hodges optimistisch. „Ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Großinvasion ist die angeblich zweitstärkste Armee der Welt nun die zweitstärkste Armee in der Ukraine“, erklärte der ehemalige Kommandeur der „United States Army Europe and Africa“ dem US-Magazin Newsweek. „Rußlands Vermögen, weitere Offensivoperationen auszuführen, sind sämtlich erschöpft.“

Um die Krim zu holen, bräuchte Kiew schweres Gerät

„Für den Kreml besitzt die Krim den quasi-heiligen Status als historisches russisches Gebiet, welches Moskau 2014 erfolgreich zurückerlangt hat“, kommentiert der Moskauer BBC-Korrespondent Will Vernon hingegen ernüchternd. „Sollten die Ukrainer systematisch russische Ziele auf der Krim angreifen, bestehen Befürchtungen, daß die russische Reaktion in der Tat sehr heftig ausfallen wird.“ Erneute Rückschläge der Ukraine wären als Resultat zu befürchten. Unter dem Eindruck der damals vorrückenden russischen Truppen hatte selbst Selenskyj im April noch eine Gewaltlösung der Krim-Frage abgewiesen und stattdessen auf Verhandlungen „innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre“ gesetzt. Noch Ende Juni drohte Dmitri Medwedew, ehemals russischer Präsident und heute Vize des Sicherheitsrats der Russischen Föderation: „Jeder Versuch, auf die Krim vorzudringen, bedeutet eine Kriegserklärung.“ In Rußland wird der Ukrainekrieg noch immer als „spezielle Militäroperation“ umschrieben.

Tatsächlich zeigt sich im östlichen Frontverlauf, daß die Ukrainer tunlichst vermeiden, die Gemarkungen der beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu überschreiten. Stattdessen wird seit Wochenbeginn von ukrainischen Vorstößen in Richtung der Zwillingsstädte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk berichtet, die beide Anfang Juli in russische Hand gefallen waren. „Die Strategie hinter den schnellen militärischen Eroberungen der Ukraine in den letzten Tagen“, berichtet die oftmals gut informierte New York Times, „nahm laut amerikanischen Beamten vor Monaten während einer Reihe intensiver Gespräche zwischen ukrainischen und US-Beamten über das weitere Vorgehen im Krieg gegen Rußland Gestalt an“. In gemeinsamen Planspielen hätten US-Militärberater gemeinsam mit britischen und ukrainischen Kollegen eine Doppelstrategie des zeitgleichen Zugriffs auf Cherson im Süden sowie Isjum im Osten entwickelt. Von einem Vorstoß auf Mariupol hätten die USA allerdings aufgrund befürchteter hoher Verluste unter den Ukrainern abgeraten.

In ihrer Offensive sei die Ukraine, „die den Großteil ihrer eigenen Munition bereits aufgebraucht hat“, so die NYT, auf Waffenlieferungen ihrer Verbündeten angewiesen. „Sie haben große Schwierigkeiten, ihre Truppen zu beliefern und ihre Kampfverluste zu ersetzen“, bestätigte unlängst US-Generalstabschef Mark Milley. Um einen lang anhaltenden Stellungskrieg zu vermeiden, welcher auch die Ressourcen ihrer Alliierten über die Maßen belasten würde, drängt die Ukraine auf fortwährende Belieferung insbesondere durch die USA. Allein Wa­shingtons militärische Hilfe umfaßt mittlerweile Waffen im Wert von umgerechnet 14,5 Milliarden Euro – noch nicht mit inbegriffen humanitäre und logistische Etats sowie bedeutende militärische Spionagetätigkeiten. Im südlichen Frontabschnitt zwischen Cherson und Mariupol, wo sich russische Truppen zum Schutz der Krim konzentrieren, bräuchte Kiew überdies moderne Kampfpanzer zur Überwindung der Stellungen. Doch deren gewünschte Lieferung aus Deutschland und anderen europäischen Nato-Staaten verzögert sich bereits seit Monaten.

Foto: Flugabwehrkanoniere der ukrainischen Nationalgarde bereiten ein Geschütz vor: „Wer den Himmel beherrscht, dem wird auch das Land gehören“