© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

„Ich bin dafür, daß Deutschland liefert“
Sicherheitsexperte Martin van Creveld: Welche Waffen könnten helfen, Europas Grenzen zu sichern?
Mathias Pellack

Medienberichte sagen, daß Moskau heiß über eine allgemeine Mobilmachung debattiert ...

Martin van Creveld: Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß praktisch alles, was Sie, ich und die meisten Westler, die kein Russisch können und keinen Zugang zu den Originalquellen haben, über den Konflikt erfahren, zunächst durch eine Reihe von Linsen gehen muß. Das sind erstens die eigenen Geheimdienste und der Propagandaapparat der Ukraine, zweitens die Geheimdienste des Westens und drittens: die Nachrichtenagenturen des Westens. Ich persönlich würde keinen dieser Apparate für besonders zuverlässig halten. Das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit.

Rußland protzte mit Wunderwaffen. Einsätze wurden aber nicht berichtet. Sind diese überhaupt bereit?

Creveld: Die hyperschnelle Waffe „Kinschal“ wurde bereits mehrfach getestet und scheint zu funktionieren. Möglicherweise wird sie deshalb nicht häufiger eingesetzt, weil ihre Reichweite von etwa 2.000 Kilometern weit über dem liegt, was in diesem Konflikt benötigt wird. Der T-14 scheint technische Probleme gehabt zu haben, die seinen Einsatz verzögerten. Die Serienproduktion begann erst um die Zeit des Kriegsausbruchs.

Im Frühjahr hatten Sie gemahnt, die Russen nicht zu unterschätzen. Bleibt diese Warnung gültig?

Creveld: Im Krieg ist es der größte Fehler, den Feind zu unterschätzen. Die Geschichte ist voll von den Leichen derer, die das getan haben.

Der Krieg wechselt schnell sein Gesicht. Jüngst sieht man vermehrt einfache Pick-ups, die mit fünf Mann an den Feind heranfahren und mit modernen Raketenwerfern viel Schaden beim Gegner verursachen.

Creveld: Denken Sie an 1940. Zu der Zeit, als die Briten zur Bekämpfung der deutschen U-Boote das erste Kurzwellenradar der Welt entwickelten, mieteten sie auch fünfzig US-Zerstörer aus dem Ersten Weltkrieg. Fast jeder Krieg wird einerseits die Entwicklung und den Einsatz neuer Waffen und Waffensysteme beschleunigen und andererseits dazu führen, daß alte Systeme aus den Magazinen überholt und wieder eingesetzt werden.

Sollte Deutschland also mehr Munition und Gerät in die Ukraine schicken?

Creveld: Nun, sollte Rußland diesen Krieg gewinnen und im Besitz der Ukraine bleiben, werden Putin und seine eventuellen Nachfolger eine lebensbedrohliche Gefahr für den Westen darstellen. So wie – ein Vergleich – Hitler nach seiner Niederwerfung Polens im Jahr 1939. Deshalb bin ich sehr dafür, daß Deutschland Waffen an die Ukraine liefert. Es gibt jedoch mehrere Bedingungen, die zuerst erfüllt werden müssen. Zum einen darf Deutschlands eigene Verteidigung nicht wesentlich geschwächt werden. Zum anderen sollten die Lieferungen mit dem Rest der Nato koordiniert werden, um Kosteneffizienz zu maximieren und Doppelarbeit zu vermeiden.

Welche Systeme wären wirklich interessant für Kiew?

Creveld: Es geht nicht nur um die Lieferung irgendwelcher Waffen. Meines Erachtens benötigt die Ukraine am dringendsten nicht Panzer, sondern Drohnen und Boden-Boden-Raketen.

... Raketen zur Zerstörung von Panzern etwa ...

Creveld: Ja. Es gibt im wesentlichen drei Arten von Systemen. Erstens: Flugabwehrsysteme, die wichtig sind, denn nach den Worten der Bibel (natürlich in einem anderen Zusammenhang) wird derjenige, dem der Himmel gehört, auch das Land besitzen. Hier meine ich auch Raketenabwehrraketen. Zweitens: Systeme, die es den Ukrainern ermöglichen, russische elektronische Ziele zu identifizieren und zu orten. Hiervon hat Deutschland allerdings selbst nicht allzuviel. Und drittens solche, die es ermöglichen, diese Ziele aus der Ferne zu treffen und zu zerstören.

Sind US-Lieferungen und die der Briten entscheidend?

Creveld: Sie sind in der Tat sehr wichtig. Ohne sie wäre als einzige Strategie den Ukrainern geblieben, den Russen zu erlauben, ihr Land zu überrennen, während sie zu Guerilla und Terrorismus gegriffen hätten. Das Ergebnis wären vermutlich russische Repressalien und noch mehr Tod und Zerstörung gewesen, als es jetzt der Fall ist.

Und die türkischen Drohnen?

Creveld: Es scheint sich um ein sehr gutes System mit vielen fortschrittlichen Möglichkeiten zu handeln. Deshalb hat der Chef der ukrainischen Luftwaffe, Generalleutnant Mykola Oleshchuk, sie laut Medienberichten als „lebensspendend“ bezeichnet. Die Popularität der Drohne ließ die Ukrainer ein Lied über die Bayraktar schreiben, in dem die russische Armee und die Invasion beschimpft werden. Doch sie ist keine Wunderwaffe – es wurden bereits mehrere abgeschossen.

Hat Kiew eine Chance, die Krim zurückzuholen?

Creveld: Das ist möglich. Die Russen halten bereits sowohl die Halbinsel selbst als auch den Korridor, der zu ihr führt, besetzt. Auch wenn ihre Kontrolle über letzteren etwas wackelig ist. Wäre ich jedoch ukrainischer Generalstabschef, würde ich zunächst versuchen, den von Rußland besetzten Landkorridor, der vom Donbas zur Krim führt, zurückzuerobern oder zumindest zu unterbrechen. Wenn das gelingt, wird die Halbinsel von selbst fallen. 






Prof. Dr. Martin van Creveld, israelischer Militärhistoriker, hat die Streitkräfte verschiedener Nationen beraten und lehrte an den Universitäten in Jerusalem und Tel Aviv.