© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Von wegen basta
Italien: Kurz vor der Wahl knirscht es im Rechtsbündnis
Fabio Collovati

Immerhin mehr als 40 Prozent der Italiener waren kurz vor der Parlamentswahl noch unentschlossen, wem sie ihre Stimmen geben sollen. Es ist einer der wenigen Hoffnungsschimmer für den Spitzenkandidaten und Vorsitzenden der Sozialdemokraten Enrico Letta, auf der Zielgeraden doch noch einen Sieg einzufahren. Alle Umfragen sehen das Mitte-Rechts-Bündnis, das aus den Brüdern Italiens (FdI) unter Führung von Giorgia Meloni, der Lega Matteo Salvinis und der Forza Italia des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi besteht, nahe der 50-Prozent-Marke. 

Lettas Sozialdemokraten kommen mit ihren wenigen, kleinen Mitte-Linksverbündeten gerade auf magere 30 Prozent. Dazwischen stehen die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung, die vor Monaten die Allparteien-Regierung des ehemaligen EZB-Bankers Mario Draghi platzen ließ, und jede Menge kleine, zumeist bürgerliche Splitterparteien. Italiens Parteiensystem ist traditionell extrem unübersichtlich und heterogen. 

Den Sozialdemokraten fehlt im Wahlkampf ein zündendes Thema

Letta, so schreiben italienische Medien, habe während des Wahlkampfes eine gute Figur gemacht. In dem einzigen TV-Duell mit Favoritin Meloni hatte er nach Zuschauereinschätzung die Nase vorn. Doch den Sozialdemokraten fehlt es an einem zündenden Thema. Die Kampagne in Italien läuft nach dem Motto „Wir gegen die“. Letta stellt das gar nicht in Abrede. „Unsere Ideen sind radikal anders als die der Rechten“, betont der PD-Chef. Zuspitzen bedeute, „den Italienern zu vermitteln, daß diese Wahl wie die Wahl in Großbritannien zum Brexit ist. Hier gibt es kein Grau.“

Es ist eine groteske Situation. Allen Umfragen zufolge war die Mehrheit der Italiener mit Draghis Technokraten-Regierung zufrieden. Doch nun liegt mit Melonis Truppe jene Formation in Führung, die als einzige größere Gruppierung nicht dazugehörte. „Die Italiener lassen sich gerne vom Gefühl leiten. Es gibt eine Sehnsucht, eine Art Romantik. Meloni bedient dieses Klischees. Ich finde, wir sollten erwachsen werden und nicht nach dem Bauch entscheiden“, sagt Letta fast beschwörend.

Doch Meloni hat die Themen auf ihrer Seite. Das sozialdemokratische Credo „Alle sind gleich“ fruchtet längst nicht mehr. Migranten-Kriminalität ist das große Thema des Wahlkampfs, hinzu kommen die steigenden Energiepreise und die hohe Inflation. Doch in Italien sind die Grenzen traditionell fließend, das zeigte auch das TV-Duell. 

Völlig einig präsentierten sich Letta und Meloni, was die Rußland-Sanktionen angeht. Die Spitzenkandidaten sind übrigens per du. Ein Duzfreund Melonis ist auch Salvini. Doch die Stimmung zwischen den beiden ist spätestens seit dem Tag frostig, als Salvini mit einem atemberaubenden Salto rückwärts die Wiederwahl von Staatspräsident Sergio Mattarella einfädelte. 

Eine Anekdote aus diesem Politschauspiel vom Januar wurde kürzlich noch einmal aufgewärmt. Demnach hatte Salvini Meloni mitgeteilt, er würde umgehend in ihr Büro kommen, um über einen gemeinsamen Kandidaten zu verhandeln. Doch während die FdI-Vorsitzende wartete, trat der Lega-Chef ein Stockwert tiefer vor die Kameras, um die Unterstützung Mattarellas zu verkünden. Salvini tat dies, weil der damalige Regierungschef Mario Draghi seinen Rücktritt angekündigt hatte für den Fall, daß die Wiederwahl des Präsidenten scheitern sollte und die Lega aufgrund schlechter Umfragen eine Neuwahl fürchtete. Zu der kam es aber, als die chaotisch agierende Fünf-Sterne-Bewegung die Regierung verließ. Salvini hatte keine andere Option mehr, als sich einem Rechtsbündnis anzuschließen und sich Meloni unterzuordnen. 

Einigkeit besteht bei den Bündnispartnern aber nur, was die Migrationspolitik angeht. Während Meloni öffentlich die Rußland-Sanktionen verteidigt, fordert Salvini einen „italienischen Weg“ und sagt: „Es ist nicht unser Krieg.“ Dem Lega-Boß werden seit langem Sympathien für den russischen Präsidenten Wladimir Putin nachgesagt. Der dritte im Rechtsbündnis, Ex-Ministerpräsident Berlusconi, bezeichnet den Russen bis heute als seinen Freund. Während eines gemeinsamen Presseauftritts vor wenigen Wochen wurden diese Differenzen öffentlich. Dennoch spricht Meloni davon, „daß uns lediglich Nuancen trennen.“ 

Doch ihre Bündnispartner sind unsichere Kantonisten. Es ist gerade einmal drei Jahre her, da kratzte die Lega an der 30-Prozent-Marke. Mittlerweile dümpelte sie zwischen elf und zwölf Prozent. Sollte es sogar einstellig werden, stünde der Kopf Salvinis parteiintern zur Disposition. Doch Meloni lobte ihre beiden Mitstreiter während des Wahlkampfs auffallend oft. In Italien heißt es, sie habe ihre Strategie darauf ausgerichtet, daß Lega und Forza Italien ein Ergebnis erzielen, um ihr Gesicht zu wahren. „Sollten wir unter zehn Prozent landen, haben wir in der Regierung nichts verloren“, zitierten italienische Medien kürzlich einen hohen Lega-Funktionär aus einer internen Sitzung. 

Auch für Berlusconis Partei stehen die Umfragen schlecht. Zwar sollte die Forza Italia problemlos die Vier-Prozent-Hürde überspringen, doch ein zweistelliges Resultat scheint in weiter Ferne. CSU-Mann Manfred Weber, Chef der europäischen Christdemokraten, sprang dem Unternehmer kürzlich sogar bei einem gemeinsamen Auftritt zur Seite. Das sorgte vor allem in Deutschland für Kritik. Berlusconi sei ein Garant für die europäische Stabilität. „Er ist Unternehmer. Er hat kein Interesse an einem italienischen Sonderweg“, lobt Weber.

Berlusconi kritisiert Salvinis und Melonis Ungarn-Haltung

In Italien heißt es dagegen, Berlusconi habe sich nur deshalb Meloni angeschlossen, um sich im Falle einer Regierungsübernahme Immunität zu sichern. Gegen den mittlerweile 85jährigen „Cavaliere“ laufen zahlreiche Strafverfahren. Kurz vor der Wahl ließ Berlusconi mit einem Interview aufhorchen. Darin kritisierte er das Stimmverhalten von Meloni und Salvini im EU-Parlament, als sich beide gegen die Ungarn-Resolution stellten. „Wenn die künftige Regierung anti-europäisch ist, werden wir sie verlassen“, warnte Berlusconi. 

Wie schwer einzuschätzen die Stimmungslage in Italien ist, zeigt der Umfrageaufschwung der linksliberalen Listenverbindung „Azione – Italia Viva“ der früheren Sozialdemokraten Matteo Renzi und Carlo Calenda. Erst vor einigen Wochen einigten sich beide Politiker auf einen gemeinsamen Antritt und liegen nun zwischen sieben und acht Prozent. Sie sehen sich als „dritten Block“ zwischen dem Rechtsbündnis und dem linken Lager. Auf ihrer Liste präsentierten sich kürzlich zwei ehemalige Ministerinnen aus einem früheren Berlusconi-Kabinett. „Wir wollen das Zünglein an der Waage sein“, sagt Spitzenkandidat Calenda und kündigt an: „Wenn es nach uns geht, wird der neue Ministerpräsident nicht Meloni oder Letta, sondern Draghi heißen.“