© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Brüssel droht und Budapest beschwichtigt
Europäische Union: Sowohl das EU-Parlament als auch die Kommission setzen Ungarn politisch und wirtschaftlich unter Druck
Jörg Sobolewski

Es ist ein Paukenschlag, mit dem sich das EU-Parlament aus der Sommerpause zurückmeldet. Eine überparteiliche Gruppe aus mehrheitlich linken Parlamentariern brachte in der zurückliegenden Parlamentswoche einen sogenannten Report ein, der Ungarn als „Wahlautokratie“ bezeichnet. Die Rechte diverser Minderheiten seien nicht mehr geschützt, die Freiheit von Presse und Justiz angeblich unter Druck. Auch von „Korruption“ ist in dem ungewöhnlich deutlichen Text die Rede, unter der Fidesz-Regierung seien „europäische Werte“ in Gefahr. 

Harte Vorwürfe gegen die Regierung von Präsident Viktor Orbán, der sich bereits in der Vergangenheit durch seine konservative Politik auf der Linken viele Feinde gemacht hat. Die Konsequenzen der Entscheidung könnten für das mitteleuropäische Land verheerend sein, eine Mehrheit von 433 Abgeordneten gegen 123 Gegenstimmen sorgte für ein Novum in der europäischen Politik. Denn nachdem 2018 das EU-Parlament die Bestimmungen des Artikels 7 (1) des EU-Vertrages gegen Ungarn in Gang setzte, erfolgte mit der Entscheidung der vergangenen Woche die Bestandsaufnahme. Es handelt sich bei Artikel 7 (1) des EU-Vertrages um ein Sanktionsmittel der EU-Institutionen gegen Mitgliedsstaaten, die – aus Sicht Brüssels zumindest – gegen Werte und Normen des Staatenverbunds verstoßen. Grundsätzlich handelt es sich dabei zunächst um eine Untersuchung der Lage vor Ort – die Entscheidung hält nun mit einer breiten Mehrheit eine ganze Reihe von Verletzungen fest. Ein klares Votum des Parlaments, das nun den Mitgliedsstaaten vorgelegt wird. 

Auch hier ein Novum, wie die Verfasser der Beschlußempfehlung anmerken, ist bei einem Entscheid über ein Verfahren nach Artikel 7 (1) keine Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten notwendig. Orbán könnte sich also mit einer antiungarischen Mehrheit konfrontiert sehen, die schließlich die Forderungen aus dem Parlament umsetzt. Darunter vor allem der Entzug von EU-Mitteln für die Wiederaufbauhilfen nach Corona sowie Subventionen aus dem Kohäsionstopf. Für das ökonomisch schwache Ungarn eine äußerst wichtige Finanzierungshilfe. 

Bemerkenswert ist auch die breite Mehrheit, mit der das Parlament den Bericht verabschiedete. Die Initiatorin der parlamentarischen Offensive, die grüne Abgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield aus Frankreich sieht in der deutlichen Zustimmung ein „bisher unbekannt deutliches Signal, der Verfall der Demokratie in Ungarn könne nicht mehr ignoriert werden.“ Als Reaktion auf die deutliche Abstimmung im EU-Parlament – lediglich die Abgeordneten der ID- und EKR-Fraktion stimmten mit Nein – will die EU-Kommission dem Land nun aufgrund von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit Zahlungen in Höhe von etwa 7,5 Milliarden Euro streichen. Die ungarische Regierung hatte zuvor bereits Maßnahmen vorgeschlagen um auf die Kritik der Abgeordneten einzugehen, dennoch will EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn die Zahlungen einstweilen aussetzen. Bis zum 19. November hat das mitteleuropäische Land nun Zeit, auf die Bedenken einzugehen und Maßnahmen zu ergreifen. 

Am Montag erklärte der Minister für regionale Entwicklung und EU-Fonds, Tibor Navracsics, daß die ungarische Regierung nicht die Absicht habe, die von ihr eingegangenen Verpflichtungen nicht zu erfüllen. Budapest betrachte die Entscheidung der EU-Kommission vom Sonntag als einen wichtigen Schritt nach vorn, da sie den Weg für den Abschluß der Verhandlungen über den Wiederaufbau- und den Kohäsionsfonds ebne, betonte Navracsics.