© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Neue Verdunklungsgefahren
Energieversorgung: Die Bundesnetzagentur soll entscheiden, wer bei Mangellagen weiterhin Gas und Strom bekommt / Streit um die wirtschaftlichen Prioritäten
Marc Schmidt

Bislang gibt der rot-grün-rote Berliner Senat nur harmlose Energiespartips: Eine Wäscheleine sei „die kostenlose Alternative zum Trockner“. Die Kesseltemperatur solle auf 60 Grad reduziert werden, nur einmal wöchentlich müsse das Wasser auf 70 Grad erhitzt werden, um Legionellen abzutöten. Winfried Kretschmanns schwäbischen Waschlappentip verkneift sich die Hauptstadtregierung, sie hält aber Duschen für wassersparender als ein Vollbad.

Im geheimen diskutiert die Berliner Polizeiführung – jenseits von spärlich beleuchteten Weihnachtsmärkten und der Kontrolle von Ladentüren – heftige Szenarien: Bürgerproteste, Rationierungen und den totalen Zussammenbruch des Stromnetzes, den Blackout. Erfahrungen von 2006 aus dem Hamburger Stadtbezirk Harburg zeigen, daß der organisierte Raub, der Zusammenbruch des Verkehrs und die sofort einsetzenden Rettungsbedarfe (Aufzüge, medizinische Notfälle) die Lage schnell in die Nähe des Ausnahmezustands rücken.

Großverbraucher unterliegen seit Frühjahr der Registrierungspflicht

Um einen solchen Blackout, der viele Tote bringen würde und Deutschland bei einer Dauer von bis zu zwei Wochen wirtschaftlich ruinieren würde, vorsorglich zu verhindern, arbeiten Stromversorger und Bundesnetzagentur an eigenen Notfallplänen. Dabei sind die Szenarien und Vorgehensweisen für Strom und Gas deutlich unterschiedlich, das Ergebnis in Form eines schweren wirtschaftlichen Schadens jedoch nicht. Da die deutschen Gasspeicher ohne Nachlieferungen – auch bei über 95 Prozent Füllstand – im Winter nur für zwei Monate reichen, stellt sich die Bundesnetzagentur schon jetzt auf Engpässe ein. Wie in Kriegszeiten oder sozialistischen Mangelwirtschaften à la Rumänien unter KP-Diktator Nicolae Ceaușescu wird es Zuteilungen und Abschaltungen von Gas für die Wirtschaft geben.

Bei Privathaushalten und Kleinunternehmen sind die netzseitigen Eingriffsmöglichkeiten noch gering, hier helfen nur Appelle, das Verbrauchsverhalten zu überdenken. Eine drastische Senkung des Gasdrucks im allgemeinen Netz oder eine „Streckung“ des Erdgases bei gleichzeitiger Senkung des Brennwerts durch zu starke Beimischungen führen zu einem Ausfall und oftmals teuren Beschädigungen der Brenner in den Heizungsanlagen. Anders gestaltet sich die Situation bei industriellen Großverbrauchern. Die sind ab einer technischen Anschlußkapazität von zehn Megawattstunden (MWh) verpflichtet, sich in der neuen Sicherheitsplattform Gas bei der Bundesnetzagentur zu registrieren. Dabei müssen die Unternehmen, die für 45 Prozent des deutschen Gasverbrauchs verantwortlich sind und die Gas nicht nur zur Wärmeerzeugung, sondern auch für chemische Prozesse nutzen, neue Berechnungen vorlegen.

Die Bundesnetzagentur fragt ab, welche Kosten und Schäden eine Unterbrechung der Gasversorgung und damit der Produktion bedeuten und welche soziale Bedeutung aus Sicht des Unternehmens die hergestellten Produkte für die Gesellschaft haben. Nicht zuletzt auf Basis dieser Daten wird die Bundesnetzagentur in einem – ohne Veränderung der Versorgungssituation – im Januar oder Februar zu erwartenden Engpaß zahlreiche Firmen von der Gasversorgung abschneiden lassen. Bereits heute ist der industrielle Gasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr um ein Fünftel gesunken, etwa durch Prozeßumstellungen, Produktionsstillegungen oder Firmenpleiten. Inwieweit die Insolvenzwelle im energieintensiven Mittelstand die Gasversorgungssituation „entspannt“, läßt sich nicht seriös kalkulieren. Aber laut Verbandsumfragen sind die Geschäftserwartungen wie das Vertrauen in den Standort, die Lieferketten und die Versorgungssicherheit in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt.

Durch die kurzfristige Abschaltung einzelner Gasabnehmer will die Bundesnetzagentur nicht nur eine Verbrauchssenkung bewirken, sondern auch einem zu starken Abfall des Drucks im Gasnetz verhindern. Denn dies hätte im schlimmsten Fall einen Zusammenbruch der Gasversorgung zur Folge. Abstrakt betrachtet ist das Abschaltverfahren im Gasnetz vergleichbar mit einem geplanten Brownout im Stromnetz, also einer gezielten Lastreduktion im Stromnetz, wenn etwa Wind- und Solaranlagen zu wenig Energie erzeugen. Die Übertragungsnetzbetreiber sind gemäß Paragraph 13 des Energiewirtschaftsgesetz seit Jahren dazu verpflichtet. Der „Lastabwurf“ – etwa von energie­intensiven Aluminiumwerken oder Chemiefabriken – ist Praxis bei der Erhaltung der Netzstabilität.

Die betroffenen Firmen erhalten dafür eine Vergütung – finanziert durch die „Umlage für abschaltbare Lasten“, die noch bis Ende 2023 auf der Stromrechnung erscheint. Der Brownout verdankt seinen Namen übrigens der stark nachlassenden Lichtausbeute von Glühlampen bei einem Spannungsabfall. Wesentlich schwerer sind die Auswirkungen von Netzschwankungen auf empfindliche und ungepufferte wie Computerserver, medizinische Geräte oder Steuerungsanlagen. Diese sind für merkliche Spannungsabfälle und Frequenzschwankungen nicht ausgelegt. Doch diese Schäden sind „harmlos“ im Vergleich zu einem vollständigen Stromausfall in einem Teilnetz oder gar einem landesweiten Blackout.

Gasverfeuerung statt Atomkraft, Kohle- und Ölreaktivierung

Um die unvermeidlichen Schwankungen der grünen Ökoenergien auszugleichen, sprangen bislang kurzfristig teure Öl- und vor allem Erdgaskraftwerke an. Doch das ist angesichts der Gaskrise nicht mehr gewährleistet. Deswegen fordern inzwischen nicht nur die Stromnetzbetreiber, sondern selbst die – inzwischen eher grün eingestellten – fünf Ökonomen des Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesregierung einen Weiterbetrieb der drei verbliebenden Atomkraftwerke. Auch die heruntergefahrenen Kohlekraftwerke müßten aus der Reserve geholt werden.

Doch bislang zögert die Ampel-Regierung. Und unterhalb der großen Politik lauert inzwischen noch eine ganz andere Gefahr: Anschläge und Sabotage durch „Klima-Aktivisten“. Am vergangenen Montag reichten weniger als zwei Dutzend an Gleisen und Förderbändern festgekettete Radikale der Gruppe „Unfreiwillige Feuerwehr“ aus, um zwei der vier Blöcke des Braunkohlekraftwerk Jänschwalde in der Niederlausitz vom Stromnetz abzutrennen. Stundenland fehlten etwa 1.000 Megawatt Leistung – das entspricht etwa 200 Windrädern im idealen Vollastbetrieb. Doch um Anlagen technisch „am Leben erhalten“, mußte kurzfristig teures Öl verfeuert werden, erklärte der erzürnte Kraftwerkschef Andreas Thiem im Sender RBB.

 www.bundesnetzagentur.de





Gefahr Brownout?

Ein Blackout ist ein tagelanger totaler Stromausfall, wie es ihn zuletzt im Extremwinter 1978/79 in Norddeutschland gab. Als kontrollierter Brownout wird die gezielte Lastreduktion im Energienetz bezeichnet. Die Übertragungsnetzbetreiber schalten große Stromverbraucher, Stadtviertel oder Landkreise kurzfristig ab, um den Stromausfall lokal zu begrenzen und so einen Blackout zu verhindern. In Südafrika sind Brownouts seit Jahren an der Tagesordnung. (fis)