© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Gern akzeptierte staatliche Moralpolitik
Heute schon auf morgen verzichten
(dg)

Anders als die Leerformel „Mehr Fortschritt wagen“, unter der die Ampelkoalition im Herbst  2021 angetreten ist, gab das vor 50 Jahren gegebene Versprechen der sozialliberalen Regierung Willy Brandts, „Mehr Demokratie wagen“ zu wollen, konkrete Ziele vor: mehr Selbstbestimmung durch mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr individuelle Freiheit durch „Erziehung zur Mündigkeit“ (Theodor W. Adorno) und mehr Teilhabe an politischen Entscheidungen. In der deutschen Gesellschaft, wie sie sich seitdem entwickelt hat, sei von dieser Agenda fast nichts übrig. Denn „der Wille zur Freiheit, Mündigkeit und Selbstbestimmung scheint unter der jahrzehntelangen guten sozialstaatlichen Absicherung deutlich gelitten zu haben“, wie Ulrike Ackermann feststellt (Aus Politik und Zeitgeschichte, 32-33/2022). Für die einst sozialdemokratische, dann zum neoliberalen Marktradikalismus bekehrte Politologin, die an der Heidelberger Privathochschule des SHR-Gesundheitskonzerns lehrt, hat der Durchschnittsbürger der Berliner Republik, um den Preis staatlicher Bevormundung, längst viel weniger Eigenverantwortung und individuelle Gestaltungsoptionen in Kauf genommen. Niemand wolle vertraute Sicherheit aufgeben zugunsten „riskanter Freiheit mit offener Perspektive, die naturgemäß ein Scheitern einschließen kann“. Darum treffe die aktuelle Renaissance „kollektiver Sinnstiftung“ durch „staatliche Moralpolitik“ auf relativ geringen Widerstand. Willig folgten große Teile des Wahlvolks den im Namen der Klima- und Weltrettung verkündeten „neuen Heilslehren“, die in allen Lebensbereichen vom Bürger verlangen, heute schon auf morgen zu verzichten. 


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