© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Die verborgenen Stimmen der Demokratie
Post vom Volk
(ob)

Hat der einfache Staatsbürger die Wahlkabine verlassen, hat er in der liberalen Demokratie wenige Möglichkeiten, sich politisch Gehör zu verschaffen, um das Handeln der Gewählten zu beeinflussen. Er kann Petitionen initiieren, Demonstrationen organisieren, Bürgerinitiativen ins Leben rufen, eine Zeitung gründen oder, seit geraumer Zeit, eine Online-Plattform oder einen Youtube-Kanal einrichten. Schließlich bleibt ihm noch ein altmodisches Instrument aus der steinzeitlichen Epoche vor dem Internet: der Brief. Entweder als Beschwerdebrief persönlich adressiert an den Politiker, der seinen Zorn erregt hat, oder als Leserbrief, gerichtet an alle. Solche „zivilgesellschaftlichen Nachrichten von unten“ sind Gegenstand eines laufenden Forschungsprojekts der Freiburger Zeithistorikerin Claudia Gatzka über „Verborgene Stimmen der Demokratie“ in der Bonner und der Berliner Republik zwischen 1949 und 2000. Ihr Augenmerk gilt dabei jenen schriftlichen Äußerungen, in denen sich bürgerlicher Unmut zu „Haßbotschaften“ verdichtet. Bei dieser für die Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegsgeschichte wichtigen, bislang kaum beachteten Quellensorte falle der markante Tonwechsel von dem Zeitpunkt an auf, „als das Internet alles veränderte“. Während in der „Haßrhetorik“ vor 1990 „vulgär-aggressive Beleidigungen und Todeswünsche“ weitgehend fehlen, fielen mit der „Selbstanonymisierung“ im Netz alle Hemmungen. Moralische Abwertungen von Politikern seien zwar auch in der alten Bundesrepublik üblich gewesen, davon zeugten die Briefsammlungen im Willy-Brandt-Archiv, aber sie fielen weniger drastisch aus (Merkur, 9/2022). 


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