© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Wiedereinsetzung in alte Rechte
Auftakt zur großen anthropologischen Debatte: Vor hundert Jahren erschien Paul Alsbergs wegweisende Schrift „Das Menschheitsrätsel“
Felix Dirsch

Der Erste Weltkrieg führte zu einem „Umsturz der Werte“ (Max Scheler), wie man ihn sich heute kaum mehr vorstellen kann. Diesen Umbrüchen vorangegangen war der enorme Erkenntnisschub der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, der zwar etliche „Welträtsel“ (Ernst Haeckel) zu lösen imstande war, aber noch mehr Fragen aufgeworfen und unbeantwortet gelassen hatte. Diverse Schriften kamen über dieses Thema im späten 19. Jahrhundert auf den Markt, so auch die des Jesuiten und Naturphilosophen Tilman Pesch („Die großen Welträtsel“).

Zu den größten Problemen im frühen 20. Jahrhundert zählte das ungeklärte Menschenbild. „Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ‘problematisch’ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß.“ Mit diesen Worten umschrieb der Philosoph Max Scheler die offenkundigen Daseinsunsicherheiten nach dem großen Weltbeben.

Für bedeutende Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus wie Carl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner konnte nicht strittig sein, daß die alte Kantsche Frage „Was ist der Mensch?“ nach den epochalen Erkenntnissen Darwins im evolutionstheoretischen Sinn weithin geklärt sei. Lediglich im Detail müsse noch geforscht werden.

Es geht um die Stellung des Menschen in der Natur

Solche Sicherheiten, die im 19. Jahrhundert bereits der Mediziner und Physiologe Emil du Bois-Reymond mit seinem skeptischen Einwand „Ignorabimus“ erschüttert hatte, wurden in den 1920er Jahren verstärkt auch auf dem Feld der Anthropologie bestritten. Mehr Wissen bedeutete gleichzeitig mehr Unwissenheit.

Zu den frühen populärwissenschaftlichen Autoren auf diesem Gebiet zählt der Arzt Paul Alsberg. Er veröffentlichte 1922 ein Buch mit dem Titel „Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung“. Er macht (im Anschluß an Thomas Huxley) als Frage aller Fragen die „Stellung des Menschen in der Natur und seine Beziehung zur Gesamtheit der Dinge“ aus. Gleichzeitig bestreitet Alsberg aber die Ansicht der meisten Darwinisten, die das zentrale Rätsel durch die Erkenntnis der tierischen Herkunft des Menschen als gelöst betrachten. Er streicht es vielmehr als kulturelle Attribuierung heraus, wenn Wissenschaftler die Grenze definieren, an der das Tier aufhört und dem Menschen die Existenz als Mensch zugeschrieben wird. 

Der Gelehrte jüdischer Herkunft, 1883 in Köln geboren, der während des Dritten Reiches aus Deutschland emigrieren mußte, rückte statt der phylogenetischen Ebene, also der von den Evolutionstheoretikern besonders analysierten Stammesentwicklung, die ontologisch-individuelle in den Vordergrund. Auf diese Weise will er die Faktoren der Menschwerdung einer ausführlichen Prüfung unterziehen.

Die Diskussionen waren stets von Plagiatsvorwürfen begleitet

Ausgiebig setzt sich Alsberg mit den Argumenten nicht nur der Darwinisten, sondern auch der entgegengesetzten „anthropistischen Richtung“ auseinander, die das Wesen des Menschen von dem des Tieres stärker unterscheiden will. Ein Thema ist der Geist als Surrogat des Instinktes. Manches davon bleibt im dunkeln. Die ältere Generation der „Anthropisten“, etwa Johann G. Vogt, hatte es noch leichter, solche vermeintlich evidenten Stufen der Anthropogenese anzugeben: Die schnell berühmt gewordenen Affen-Experimente des Psychologen Wolfgang Köhler in den Versuchsanstalten auf Teneriffa in den 1910er Jahren belegten jedoch praktische Formen von Intelligenz und rudimentärer Geistigkeit auch im Tierreich. 

Alsberg bevorzugt ein anderes unterscheidendes Kriterium von Mensch und Tier: nämlich das der Körperanpassung beim Tier, während der Mensch zum Grundsatz der Körperausschaltung mittels künstlicher Werkzeuge neigt. Der Autor zählt zahlreiche Beispiele für technische Instrumente auf, die körperliche Vorgänge zum Teil erleichtern, zum Teil ganz überflüssig machen. Je fortgeschrittener die Kultur ist, desto vielfältiger werden die Möglichkeiten der Ersetzung. Selbst das Wort wird als Werkzeug zum Zweck der Körperausschaltung herausgearbeitet. Die dualistische Sichtweise springt dabei schnell ins Auge.

Die Sonderstellung des Menschen hervorzuheben, ihn gleichzeitig aber als ein „in der Natur wurzelndes“, mit dem Tierreich aufs engste verbundenes Wesen zu definieren, ist Alsberg ein Anliegen. Im nachhinein verblüfft, wie detailliert er diverse Ergebnisse und Begriffe der großen anthropologischen Kontroverse vorwegnimmt. Sie wird hauptsächlich von Philosophen und Naturwissenschaftlern ausgetragen und dauert rund drei Jahrzehnte von den späten 1920er Jahren bis in die späten fünfziger Jahre. Protagonisten dieser Debatte sind Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen, aber auch Zoologen wie Adolf Portmann und Anatomen wie Louis Bolk. Gehlen wird vor allem mit dem (oft mißverstandenen) Ausdruck vom Menschen als „Mängelwesen“ in Verbindung gebracht, der inhaltlich auf eine sehr lange Tradition (bis in griechische Mythen der Frühzeit hinein) zurückblicken kann. Dieser Begriff findet sich schon bei Alsberg.

Überhaupt waren diese Diskussionen stets von Plagiatsvorwürfen begleitet. Betrachtet Alsberg die „Stellung des Menschen in der Natur“, so betitelt Scheler seine wirkmächtige Schrift aus dem Jahre 1928 mit „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Diese Publikation bemerkt (wie Alsberg) als zentrales philosophisches Problem die Inkonsistenz der abendländischen Menschenbild-Überlieferung: Die so herausragende Position des Menschen in der klassisch-griechischen Philosophie als animal rationale wird im christlichen Kontext unterstrichen mittels der Vorstellung vom Ebenbild Gottes. Dagegen mußte der Siegeszug der Evolutionslehre, die die Wurzeln und Herkunft des Menschen in unvordenklichen Zeiten nicht von denen anderer Organismen trennte, wie eine weitere „Kränkung“ (Sigmund Freud) erscheinen. 

Alsberg hält eine solche pessimistische Deutung für zu kurz gedacht. Er plädiert für die Wiedereinsetzung des Menschen in seine Rechte und Privilegien, ohne jedoch die Errungenschaften der Evolutionslehre über Bord zu werfen.

Rückte der Mensch infolge des grundstürzenden, mit dem Namen Darwin verbundenen Paradigmenwechsels im 19. Jahrhundert in der verbreiteten Wahrnehmung näher an höhere Primaten heran, so beunruhigt manche Zeitgenossen heute die zunehmende Substituierung einst als genuin human erachteter Leistungen durch Algorithmen. Darstellungen mit Titeln wie „Wann übernehmen die Maschinen?“ (Klaus Mainzer) lassen viele Konzepte zur „Verteidigung des Menschen“ (Thomas Fuchs) entstehen. Sie betonen die Besonderheiten des alten Adam, der weder als eine „höhere Art Tier“ (Alsberg) noch als „höhere Art Maschine“ zu klassifizieren ist.

Paul Asbergs Buch „Das Menschheitsrätsel“ ist nur noch antiquarisch erhältlich.