© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Tür an Tür mit Alice
Kino: „Don’t Worry Darling“ ist eine verstörende Verschwörungs-Dystopie mit Anleihen bei modernen Filmklassikern
Dietmar Mehrens

Daß keine Welt schön und perfekt genug sein kann, um den Menschen, der in ihr lebt, nicht trotzdem in Versuchung zu führen, die ihm darin gesetzten Grenzen zu überschreiten, diese Erfahrung machten schon Adam und Eva. Das Naschen vom Baum der Erkenntnis setzt auch in „Don’t Worry Darling“ eine Kettenreaktion verheerender Folgen in Gang.

Der Garten Eden, zu dessen Auserwählten Alice (Florence Pugh) und ihr Mann Jack (Harry Styles) gehören, verströmt heiter-beschwingten Fünfziger-Jahre-Charme und liegt mitten in der Wüste. In einem Talkessel ist hier unter der Leitung von Bürgermeister, Projektleiter und Universalseelsorger Frank (Chris Pine) eine heile Kleinbürgerwelt namens Victory Town entstanden, die in ihrer Perfektion an die von Truman Burbank aus der berühmten „Truman-Show“ (1998) erinnert oder auch an die der „Frauen von Stepford“ („The Stepford Wives“, 1975 und 2004): lauter zufriedene Ehepaare, die in einer Oase der Harmonie Tür an Tür leben und sich prächtig verstehen.

Alle wirken wie aus dem Ei gepellt, geben sich betont entspannt und führen ein ideal geregeltes Leben: Die Männer steigen morgens in ihre schicken Fünfziger-Jahre-Schlitten, um in der Victory-Projektzentrale an der Entwicklung ominöser „fortschrittlicher“ Dinge mitzuwirken, und die Frauen gehen nach erledigtem Hausputz zur Gymnastik. Da geht es um Körperertüchtigung, aber auch um das Einüben von Propagandaphrasen wie: „Es liegt Grazie in Symmetrie, es liegt Schönheit in Kontrolle.“

Die Mehrheit glaubt doch lieber der Lüge

Zwischen rauschenden Festen und Gala-Diners, die die Freizeit ausfüllen, bleibt eigentlich weder Grund noch Zeit zur Klage. Wie kann es also Alices Freundin Margaret (KiKi Layne) zu behaupten wagen, daß beim Victory-Projekt irgendwas mächtig faul ist? Die verschworene Gemeinschaft bestraft dieses Ausscheren aus dem Konsens mit Diskriminierung und Ausgrenzung. Wenig später schlitzt Margaret sich die Halsschlagadern auf und fällt tot vom Dach ihres pittoresken Hauses. In Alice nährt das einen Argwohn, der aufgrund von seltsamen Träumen und Halluzinationen schon vorher latent da war. Als sie vom Bus aus ein Kleinflugzeug abstürzen sieht, aber nirgends Wrackteile findet, macht sie das noch skeptischer. Die anderen mögen ja glauben, was Gemeindeguru Frank ihnen erzählt, doch Alice ist sich sicher, einer Verschwörung auf die Schliche gekommen zu sein.

Aber wie das so ist, wenn man als einer von wenigen die Wahrheit entdeckt hat: Die Mehrheit glaubt doch lieber der Lüge und möchte, daß Alice die Klappe hält. Die bislang so beliebte Blondine bekommt eingeschärft, ihre Existenz in Victory Town nicht zu gefährden und vor allem nicht noch einmal in ketzerischer Manier die Ortsgrenzen zu überschreiten. Das Gegenteil von Fortschritt sei das Chaos, wird Alice von Frank ins Gebet genommen, das könne sie doch nicht ernsthaft wollen. „Alle tun so, als wäre ich verrückt, aber ich bin nicht verrückt“, weint sich Alice schließlich bei ihrem Mann aus. Doch selbst der steht nicht mehr uneingeschränkt zu seiner Frau.

„Don’t Worry Darling“ ist die spektakuläre Umsetzung eines nicht minder spektakulären Drehbuchs, das zwar viele Paten hat – außer den bereits genannten Vorbildern ist unbedingt noch „Matrix“ (1999) zu nennen –, aber trotzdem eine ganz eigene Faszination entfaltet. 

Die US-amerikanische Regisseurin Olivia Wilde, die in einer Nebenrolle zu sehen ist, und Autorin Ka-tie Silberman hatten bereits bei der Komödie „Booksmart“ (2019) erfolgreich kooperiert. Zwar dauert es ein wenig zu lange, bis die in Silbermans oscarreifem Drehbuch angelegte Eskalation das Kleinbürger-Idyll in ein Horrorszenario verwandelt, aber dann heißt es wirklich: festhalten, was die Sessellehne hergibt. Der Film funktioniert auf vielen Ebenen: als Konformismus-Kritik, als feministisches Emanzipationspamphlet, als Satire auf Technologie-Hörigkeit und Selbstoptimierungswahn oder ganz einfach als Warnung vor dem universellen Virus der Leichtgläubigkeit. Schon allein diese Deutungsoffenheit macht „Don’t Worry Darling“ zu einem der heißesten Tips des soeben beginnenden Kinoherbstes, und das nicht nur, weil der Film in der Wüste spielt.

Kinostart ist am 22. September 2022