© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Mit Rilke im Herzen der Finsternis
Publizistik: Deutsch-polnische Literaturkontakte während des Zweiten Weltkrieges
Oliver Busch

Wer den bundesdeutschen Geschichtsunterricht genossen hat, meint zu wissen, daß die deutsch-polnischen Beziehungen sich erst während der NS-Diktatur so drastisch verschlechterten, daß an ihnen sich ein Weltkrieg entzündete. Tatsächlich aber eilten sie zur Zeit der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, von Tiefpunkt zu Tiefpunkt, während ihr maßgeblicher „Verständigungspolitiker“, der rechtsliberale Reichsaußenminister Gustav Stresemann, einen Ausgleich mit den westlichen Siegermächten suchte, auf eine friedliche Revision der im Versailler Diktat zugunsten Polens gezogenen deutschen Ostgrenze jedoch nicht verzichten wollte. Unterdessen verfolgten alle Warschauer Regierungen seit 1919 das Ziel, die stärksten ethnischen Minderheiten, die dem Vielvölkerstaat Polen im Westen und Osten zugefallen waren, Deutsche und Ukrainer, entweder außer Landes zu treiben oder sie mittels einer repressiven Schul-, Kirchen- und Kulturpolitik ihrer nationalen Identität zu berauben.

Strikte Trennung von deutschen und polnischen Künstlern

Ausgerechnet unter dem Reichskanzler Adolf Hitler, der mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar 1934 Polens Westgrenze faktisch garantierte, entspannten sich diese Beziehungen, was nicht zuletzt zur merklichen Belebung des wissenschaftlich-kulturellen Austausches zwischen Berlin und Warschau führte. Ungeachtet dessen verschärften sich die polnischen Repressionen gegen die deutsche Minderheit nach der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie durch ein Militärregime, das sich im Frühjahr 1935 etablierte. 

Diese komplexe Vorgeschichte seines manche Überraschungen bietenden Themas, „Über die Wahrnehmung und Rezeption der deutschsprachigen Literatur im besetzten Polen“ (Jahrbuch für Internationale Germanistik, 2/2021), blendet der an der Universität Warschau tätige Literaturwissenschaftler Markus Eberharter in seiner erst pünktlich mit der deutschen Besetzung im Oktober 1939 einsetzenden Darstellung allerdings lieber aus, um die brutale nationalsozialistische Kulturpolitik im „restpolnischen“ Generalgouvernement nicht in ein Licht zu rücken, das sie als extremen Rückschlag des Pendels erscheinen ließe.

Grundlage der letztlich die „Unterdrückung und Vernichtung der polnischen Kultur“ beabsichtigenden Maßnahmen der in Krakau residierenden deutschen Verwaltung waren die „Kulturpolitischen Richtlinien“ ihrer Abteilung für Volksaufklärung und Propaganda. Obwohl die Echtheit dieses Dokuments zur „Nazi Kultur in Poland“, das die polnische Exilregierung 1945 in London publizierte, umstritten ist, spiegelt es für Eberharter jedenfalls die Haupttendenz der NS-Kulturpolitik wider: die polnische Kultur aufzulösen, auch indem man jeden Austausch mit der deutschen zu unterbinden suchte. Das polnische „Kulturleben“, so ordnen die Richtlinien an, sei darum auf die Befriedigung eines „primitiven Unterhaltungs- und Zerstreuungsbedürfnisses“ zu begrenzen. Auf die strikte Trennung von deutschen und polnischen Künstlern sei dabei zu achten. Diese dürften nicht zusammen auftreten, deutsche Künstler keinesfalls vor polnischem Publikum spielen. Ernstes Schauspiel und Oper, also höhere Kunstformen, seien für Polen verboten. Was speziell die Literatur betreffe, so dürften polnische Schriftsteller lediglich leichte Unterhaltungsromane oder Kurzgeschichten veröffentlichen. Aus Buchhandlungen und Bibliotheken sei die anspruchsvollere polnische Literatur zu entfernen. 

Die damit angestrebte geistige Isolierung der polnischen Bevölkerung mußte gleich auf mehreren Ebenen mißlingen, wie Eberharter das vorläufige Fazit seiner Recherchen zu einem noch große Forschungslücken aufweisenden Kapitel der Zeit- und Kulturgeschichte zieht. Zum einen gab es neben der Untergrundpresse eine offizielle, polnischsprachige Presse, die trotz strenger Zensur Ausblicke auf ausländische Literatur gewährte. Überdies boten allein 20.000 bis heute nicht ausgewertete literarische und literaturkritische Texte, die bis 1944 im Besatzungsblatt Krakauer Zeitung erschienen sind, auch dem polnischen Lesepublikum eine Möglichkeit, sich über ein weites Spektrum deutscher und europäischer Literatur zu informieren, sofern es die deutsche Sprache beherrschte. Und zudem blieb ein eher elitärer, bereits vor 1939 deutsche Literatur von Goethe bis Gerhart Hauptmann in Polen vermittelnder Kreis von Schriftstellern und Übersetzern zumeist im Untergrund aktiv. 

Rainer Maria Rilke erfreute sich in Polen großer Popularität 

Das findet Eberharter erstaunlich, denn polnische Intellektuelle hätten, angesichts „der Taten, zu denen sich deutsche Soldaten im Warschauer Ghetto und im besetzten Polen fähig zeigten“, kaum Anlaß gehabt, sich mit deutschsprachigen Autoren zu beschäftigen. In einigen Samisdat-Publikationen schlage sich konsequente Deutschfeindlichkeit denn auch nieder. Aber es scheine doch vielfach der Wille vorhanden gewesen zu sein, zwischen Nationalsozialismus und deutscher Kultur zu unterscheiden. Was sich besonders am Beispiel des während der Besatzungszeit am meisten gelesenen deutschen Autors zeige: Rainer Maria Rilke (1875–1926), dessen Lyrik sich in Polen schon vor 1939 großer Popularität erfreut habe.

Die Tatsache, daß er ein deutscher, auch im Reich nach 1933 weiterhin sehr beliebter Autor war, stellte für die polnische Rezeption zwischen 1939 und 1945 offensichtlich kein Hindernis dar. Rilke wurde in den Kriegsjahren ebenso häufig übersetzt wie zuvor, Inspirationen seiner Lyrik hinterließen zudem unzählige Spuren in Werken polnischer Autoren. In den Zirkeln der Literaturenthusiasten war Rilke der am häufigsten übersetzte Deutsche. Alle hätten ihn damals übersetzt, es sei fast eine Art von Wettbewerb gewesen, zitiert Eberharter eine Zeitzeugin. Und Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) taucht nicht von ungefähr „immer wieder“ unter den Lektüreerfahrungen polnischer Schriftsteller in diesen Jahren auf.  

Die intensive Rezeption Rilkes mag aus dem Durchschnitt herausragen, aber generell gelte für die deutsch-polnischen Literaturkontakte in einer historischen Ausnahmesituation: Dem deutschen Sich-Verweigern in bezug auf polnische Kultur stand die Bereitschaft auf polnischer Seite gegenüber, Deutsche, die an der Tradition ihrer Kultur und Geistesgeschichte festhielten, nicht mit Nationalsozialisten zu verwechseln. Ihnen sei es darum zu verdanken, daß die Kontinuität der literarischen Beziehungen „auch in den schrecklichen Jahren des NS-Terrors in gewisser Form aufrechterhalten wurde“.