© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Eine politisch mediale Elite macht sich den Staat zur Beute
Euch zu erziehen
Lothar Fritze

Die Zahl derer, die sich vom Staat der Bundesrepublik Deutschland innerlich verabschiedet haben, wächst. Hausgemachte oder schlecht gemanagte Krisen haben das Vertrauen in die Kompetenz der politischen Klasse weitgehend zer-stört. Und obwohl die Spaltung der Gesellschaft selten so tief war und die Grundfesten des freiheitlichen Staates immer mehr ausgehöhlt werden, hält die politische und mediale Elite des Landes an ihrem Kurs ungerührt fest. Ihre ideologische Selbstfesselung erschwert nicht nur die Wahrnehmung der Realität – sie kann bereits die Benennung tatsächlicher Probleme als ein „Verbrechen“ erscheinen lassen, das gruppenintern zu bestrafen ist. Unter diesen Bedingungen ist eine Wende zum Besseren kaum zu erwarten. Ohnehin sind die Pflöcke, die die zukünftige Entwicklung determinieren, längst eingeschlagen.

Der Staat hat eine dienende Funktion. Ein freiheitlicher Staat gewährleistet die Freiheit des einzelnen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, und er garantiert die Selbstbestimmung des Volkes, einschließlich des Rechts, sich an der Verabschiedung der Regeln, an die sich jeder zu halten hat, direkt oder indirekt zu beteiligen. Ein freiheitlicher Staat ist nur als demokratischer Rechts- und Verfassungsstaat denkbar.

Die auf Zeit gewählten Repräsentanten eines solchen Staates unterliegen einem strikten Neutralitätsgebot. Sie können zwar für das Herrschaftsmodell und die Verfassungsordnung des Staates werben, nicht aber Propaganda für ihre politisch-moralische Grundorientierung treiben. In einem freiheitlichen Staat sollten es Regierung und Amtsträger als ihnen untersagt betrachten, die politische Willensbildung und die Moral der Bürger gemäß parteipolitischen Überzeugungen, inklusive eigener Vorstellungen der Weltverbesserung, manipulativ zu beeinflussen. Erlaubt ist es dem Staat lediglich, Auffassungen und Verhaltensweisen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar sind, entsprechend (negativ) zu bewerten und Gesetzesverstöße zu ahnden. Vor allem aber ist es den Repräsentanten des Staates nicht erlaubt, in der Verfolgung einer eigenen Agenda fundamentale Gegebenheiten des Lebens und Zusammenlebens oder gar die Zusammensetzung des Volkes, des Souveräns, durch Hinnahme oder Organisation einer Masseneinwanderung signifikant zu verändern.

Gemessen an diesen Grundsätzen befindet sich der bundesdeutsche Staat in keiner guten Verfassung. Für die kosmopolitisch und universalistisch orientierte Elite scheint das Neutralitätsgebot keine Bedeutung zu haben. Sie mißbraucht ihre politische und mediale Macht, um die bereits errungene kulturelle Hegemonie mit Mitteln zu zementieren, die in einem freiheitlich-demokratischen Staat nicht zu akzeptieren sind. Hemmungslos nutzt sie Methoden der Bewußtseinsmanipulation und gewinnt auf diese – demokratietheoretisch illegitime – Weise Einfluß auf den Meinungsbildungsprozeß der Massen. Abweichler und Kritiker, die den dekretierten und auf den Weg gebrachten Bewußtseinswandel noch nicht vollzogen haben, werden stigmatisiert, moralisch verächtlich gemacht und gesellschaftlich ausgegrenzt. Das Ziel ist es, die eigenen politischen und moralischen Grundüberzeugungen vor öffentlicher Infragestellung zu schützen und Kritik zu unterbinden. Man kämpft um die ideologische Vorherrschaft, verschwendet dabei Ressourcen des Staates und nimmt sehenden Auges eine Zerstörung der Gedanken- und Meinungsfreiheit in Kauf – eines Eckpfeilers des demokratischen Verfassungsstaates.

Diese Elite ist dabei, einen in der deutschen Gesellschaft sowie im europäischen Verständnis bestehenden Grundkonsens hinsichtlich der Gültigkeit fundamentaler Annahmen aufzukündigen. Zu dieser gemeinsam geteilten „Hintergrundideologie“ gehörte bis vor nicht allzu langer Zeit die Auffassung, daß sich Völker, die über Jahrhunderte hinweg in mehr oder weniger präzise definierten Territorien leben, wesentlich über die Abstammung definieren; dazu gehörte auch die Meinung, daß sich Grenzen schützen lassen und es in das Ermessen jedes Staates selbst gestellt ist, welche und wie viele Menschen man einwandern läßt.

Diese Überzeugungen, die gleichsam Allgemeingut waren, werden öffentlich fast nur noch von politischen Außenseitern vertreten, und diese müssen damit rechnen, in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden. Wer als Bürger besorgt ist, ein Übermaß an kulturfremder Einwanderung könnte gesellschaftliche Konflikte heraufbeschwören, mit denen sich ein Gemeinwesen besser nicht belastet, findet in Deutschland derzeit keine von der politischen Klasse mehrheitlich als demokratisch angesehene Partei, die seine Interessen vertreten würde. Konservativ eingestellte politische Denker und Politiker haben das Feld weitgehend geräumt und es linken Globalisten, moralischen Universalisten und den Kommunikatoren transnational operierender Unternehmen überlassen. Vieles, was früher zur Staatsräson gehörte, gilt heute als unaussprechbar.

Diese Elite hat es mittlerweile geschafft, die gesamte öffentliche Kommunikation auf den von ihr gepflegten Irrglauben „zu verpflichten“, anthropologisch und geschichtlich virulente Triebkräfte des Handelns, nämlich die Wertschätzung des Eigenen und das Streben nach Selbstbehauptung, ließen sich durch eine universalistische Gesinnung und deren Vorbildwirkung überwinden. Ihr ist es gelungen, öffentliche Debatten über notwendige gesellschaftliche Veränderungen primär auf „Gerechtigkeitsdiskurse“ umzustellen und dabei Fragen der Machbarkeit und der Langzeitwirkungen nahezu vollständig auszuklammern. Sie versucht, die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Menschen ausschließlich auf Umwelteinflüsse zurückzuführen und hält es für ein Ideal, Chancengleichheit durch Ergebnisgleichheit zu ersetzen. Ideologen dieser Elite wollen uns glauben machen, es sei unmöglich, das Geschlecht eines Menschen durch äußere Betrachtung seines Körpers zu bestimmen. Statt dessen beabsichtigen sie, die gesetzlichen Möglichkeiten zu schaffen, die es jedem anheimstellen, sein Geschlecht unabhängig von den biologischen Gegebenheiten selbst festzulegen.

Diese Elite hat es fertiggebracht, Heerscharen von Diskriminierten zu konstruieren und ihnen zugleich das exklusive Vermögen einer unverstellten Realitätswahrnehmung zuzuschreiben. Nur wer selbst zu einer diskriminierten Gruppe gehört, so wird uns mitgeteilt, kann wissen, was es heißt, ein solcher Diskriminierter zu sein; nur Diskriminierte können erkennen, wann Diskriminierung vorliegt, und nur ihnen obliegt es, den Rest der Gesellschaft darüber zu belehren, was sich gesellschaftlich ändern muß und was nicht mehr gesagt oder getan werden darf. Vor allem aber hat es diese Elite bewerkstelligt, ein geistiges Klima zu erzeugen, in dem es aus Gründen des Selbstschutzes nicht mehr ratsam ist, all diese – und andere von ihr vertretene – Postulate in Zweifel zu ziehen.

In der Tat, diese „Elite“ hat die Herrschaft übernommen. Sie benutzt ihre Macht, nicht nur um Debatten zu beeinflussen, sondern sie auch zu verhindern, um Themen zu setzen oder (man denke an das ungeregelte Migrationsgeschehen) aus der Öffentlichkeit „verschwinden“ zu lassen. In erster Linie jedoch verfolgt sie eine Agenda der grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft. Es geht um eine Neuordnung der Fundamente der europäischen Zivilisation. Verbote, Propaganda und Umerziehung sind die dabei bevorzugten Mittel.

Niemand in der gesamten europäischen Machtelite hat den umfassenden und unbedingten Gestaltungsanspruch in einer derart unverhohlenen Offenheit zum Ausdruck gebracht wie der frühere luxemburgische Premierminister und spätere Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker. In einer vom Spiegel kolportierten Einlassung hat er dargelegt, wie man in der Europäischen Union Politik betreibt und ohne Offenlegung der Ziele des eigenen Vorgehens sowie der Bedeutung von Beschlüssen, ohne Zustimmung der Völker und unter Inkaufnahme einer Mißachtung der Völkerwillen unumkehrbare Fakten schafft: „Wir beschließen etwas“, so Juncker schon vor mehr als zwanzig Jahren, „stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ (Spiegel, 26. Dezember 1999)

Die dominierende Elite hat das Land geistig gespalten. Richtung und Tempo der von ihr eingeschlagenen gesellschaftlichen Veränderungen sind für einen erheblichen Teil der Bevölkerung nicht tolerabel. Dies wissend, nutzt man Krisen, um – wie etwa bei der Ausgabe gemeinsamer europäischer Staatsanleihen (Eurobonds) – politische Projekte durchzusetzen, von denen man ahnt, daß sie von der Bevölkerung eigentlich nicht gewollt werden und in normalen Zeiten auch nicht mehrheitsfähig wären. Wolfgang Schäuble (CDU), damals noch Bundestagspräsident, machte in einem Interview mit der Neuen Westfälischen vom 20. August 2020 daraus auch keinen Hehl: „Die Corona-Krise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer. Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen […].“

Einflußreiche Machtpositionen werden heute von Ideologen bevölkert, die auf das Volk wie auf eine widerspenstige und erziehungsbedürftige Herde herabblicken, die zu ihrem Glück gezwungen werden muß. Diese „Volksvertreter“ erheben einen Führungsanspruch, der mit der Idee der Selbstbestimmung des Volkes unvereinbar ist. Das Volk zu erziehen heißt, es zu entmündigen und damit die Bedingungen der Möglichkeit der Demokratie zu untergraben.






Prof. Dr. phil. habil. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, 1993 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, lehrte als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Wichtige Buchveröffentlichung: „Angriff auf den freiheitlichen Staat“, Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn 2020.

Foto: Sozial anmutender Wahlspruch einer UN-Kampagne auf einer Krawatte: Eliten prägen Diskurse ungefragt auf vermeintliche Gerechtigkeitsdebatten um